Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
angesprochen wurden: »Na wie geht’s, Oma?«, antworteten sie brav: »Geht-Geht! Gut-Gut-Gut!«
Die Moskauer Miliz war auf diese neue Freizeitbeschäftigung der Jugend nicht vorbereitet, denn in einem hatten die Alten recht: Obwohl die meisten Sportklubs gleich nach der Großen Oktoberrevolution in den Zwanzigerjahren gegründet worden waren, hatte es so etwas wie gewaltbereite Fußballfans früher nicht gegeben. So etwas kannte man bisher nur aus der kapitalistischen Welt der Unterdrückung und Sklaverei – irgendwo im nebligen Liverpool oder Manchester schlugen die ums Leben betrogenen Hooligans einander ständig im Suff die Köpfe ein. Was hätten sie auch sonst tun sollen in dieser vom schnöden
Profitdenken regierten Welt, in der mit Fußballern wie mit Sklaven für Baumwollplantagen gehandelt wurde?
Bei uns dagegen, im entwickelten Sozialismus, sahen die Zuschauertribünen anders aus – freundlich, sauber und gepflegt. Ein Fußballspiel wurde von Familienvätern mit Frau und Kind besucht. Wenn Lokomotive gegen Traktor spielte, saßen die Arbeiter beider Betriebe fröhlich nebeneinander, und wenn der eine »Tor!« schrie, klatschte der andere höflich mit, um seinen Respekt vor der sportlichen Leistung der gegnerischen Mannschaft zu demonstrieren, und haute dem Nachbarn nicht gleich die Bierflasche über den Kopf. Man hoffte, dass die eigene Mannschaft beim nächsten Mal besser spielen würde und gönnte sich höchstens ein zweites Bier.
So ging es jahrzehntelang, bis die Achtzigerjahre mit ihren Fußballschlachten und Liverpooler Verhältnissen kamen. Da brauchte man anscheinend ein Ventil, einen Ort, an dem man sich aufregen konnte, ohne gleich als Dissident dazustehen. Weiß-blaue, rotblaue und weiß-rote Kolonnen marschierten fortan durch die Städte und Dörfer. 1986 fuhren dreihundert rot-weiß gekleidete Jugendliche nach Kiew und verscheuchten dreitausend Dynamo-Kiew-Fans aus dem Stadion. Danach folgten Eriwan, Dnepropetrowsk
und Vilnius. Die Fans der anderen Mannschaften fühlten sich nur kurz überrumpelt, danach machten sie es den Spartak-Fans schnell nach.
Als 1991 die Sowjetunion auseinanderkrachte, gab es auf einmal keine Unionsliga mehr, und die Sportvereine mussten sich neue Überlebenskonzepte ausdenken. Die Wirtschaftskrise riss den Fußball mit sich. Viele Spieler, die etwas taugten, verschwanden im Ausland, die Fanentwicklung stagnierte. Es wurde wieder still in den Stadien, man glaubte fast an die Rückkehr des freundlichen Familienvaters mit dem Bier. Aber Fußball ist unsterblich. Schon einige Jahre später fingen die frischgebackenen unabhängigen Republiken an, wieder Geld in Sportvereine zu investieren.
Ab 1994 erlebte auch die Fußballfanbewegung eine Renaissance. In der neuen wilden russischen Demokratie musste sich der Fan seine Ausrüstung nicht mehr selbst nähen oder in einer Untergrundwerkstatt am Stadtrand besorgen, sie wurde an allen Ecken und Unterführungen angeboten. Die Klubs kauften sich ihre guten Spieler zurück und liehen sich dazu noch ein paar Brasilianer aus, um den russischen Fußball etwas farbiger zu gestalten. Die Spartak-Fans bildeten nach Liverpooler Vorbild unterschiedliche Fraktionen: die »Verrückten Elefanten«, die »Slam-Fleischer«
oder die »Hardcore-Pioniere«. Wenn sie ihre Mannschaft nun zu einem Auswärtsspiel, zum Beispiel in die unabhängige Republik Ukraine oder die unabhängige Republik Weißrussland, begleiten, dann können die britischen Geistesbrüder ruhig eine Pause einlegen. Und die alten Leute in der Stadt machen sich wieder Sorgen um die Jugend.
»Dieser Wahnsinn hört wohl nie auf«, seufzen die Opas.
»Nie-Nie! Nie-Nie-Nie!«, bestätigen die Omas.
Literatur
Wie jeder andere Autor werde ich oft nach literarischen Vorbildern gefragt. Von welchen Büchern waren Sie in Ihrer Jugend besonders beeindruckt? Da denke ich dann immer an die Buchläden meiner Kindheit. Die Sowjetunion galt als Land der Leser und die russische Klassik – Tolstoi und Dostojewski – hat einen hohen Stellenwert in der Weltliteratur. Aber die Buchläden meiner Kindheit waren leer. Sie trugen große Namen wie »Der Sonnenaufgang« oder »Die Junge Garde«, waren groß und mit bunten Transparenten geschmückt: »Das Buch – die Quelle des Wissens« stand da, und »Ein Buch – das beste Geschenk«. Diese Läden
hatten mindestens drei Abteilungen. In einer konnte man Kugelschreiber, Papier und Stifte kaufen und unter Umständen selbst was
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