Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts
Traumhütte:
abgelegen, am Fuße eines Vulkans, weit von jeglicher Zivilisation entfernt, aber nahe an einem Flughafen und trotzdem noch zu mieten. Auf dem Bildschirm sah sie nicht besonders schick aus. Es war ein kleines Haus mit weißen Wänden und rotem Dach, anspruchslos und niedlich. Genau das, was wir gesucht hatten. Neben dem Bild stand eine kurze Ortsbeschreibung: Die Gegend sei wegen eines ständigen starken Nord-West-Passats ein echtes Paradies für Windsurfer. Na und?, dachten wir leichtsinnig. Wenn es für die Windsurfer gut ist, warum soll es dann nicht auch für normale Menschen gut sein?
Die wahre Bedeutung des Nord-West-Passats und seine Auswirkungen auf unseren Urlaub haben wir leider erst sehr spät erkannt, als wir bereits mit unseren Siebensachen am Fuß des Vulkans standen. Es war exakt der lustige Genosse Wind aus dem Jugendfilm: Er stellte uns die Haare senkrecht auf dem Kopf auf, riss einem die Zigaretten aus dem Mund und schmiss mit Sand, den er erst zu kleinen, akkuraten Tornados in der Luft zusammenwickelte und dann über uns herabfallen ließ. Er pfiff uns die ganze Zeit sein unverständliches Lied in die Ohren. Man konnte nur gebeugt gegen den Wind laufen. Mit dem Passat im Rücken verwandelte sich dagegen jeder Fußgänger in einen Schnellläufer. Mit einer geradezu überirdischen
Leichtigkeit konnte man in zwanzig Schritten die ganze Bucht durchqueren.
Langsam erforschten wir die Gegend am Fuße des Vulkans. Nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, gingen wir zum einzigen Supermarkt und blieben am Ufer des Ozeans stehen, umweht vom pfiffigen Genossen.
»Wo sind hier eigentlich die verdammten Windsurfer, ich sehe keinen einzigen!«, schrie mir meine Frau ins Ohr.
»Wahrscheinlich bewegen sie sich zu schnell, um für das menschliche Auge noch sichtbar zu sein, oder sie surfen unter Wasser«, schrie ich zurück.
Unsere abgelegene Hütte sah auch in Wirklichkeit genauso aus wie im Internet. Links und rechts von ihr standen hundert andere abgelegene Hütten, die man auf den kleinen Internet-Bildern natürlich nicht gesehen hatte. Die meisten waren von älteren Menschen aus Deutschland bewohnt, die ihren Lebensabend an einem schönen, ruhigen Ort verbringen wollten. Die Parkbänke ihrer Heimatorte waren ihnen zu unbequem. Sie alle hatten wahrscheinlich die Bedeutung des Nord-West-Passats unterschätzt und wurden so für immer seine Geiseln. Die meisten unserer Nachbarn waren Omas mit Katzen, die so gut wie nie ihre Hütten verließen und nur durch die Fenster
nach draußen guckten. Vielleicht waren auch ein paar pensionierte Windsurfer dabei. Wenn sie sich doch einmal auf die Straße wagten, bewegten sie sich oft rückwärts, mit dem Hintern zuerst. Sie bildeten sich ein, auf diese Weise dem Wind entwischen zu können.
Die ersten Tage ging uns der Wind fürchterlich auf die Nerven. Man konnte draußen nicht einmal eine Zigarette in Ruhe rauchen. Alles flog sofort weg – die Asche, der Rauch, der Aschenbecher. Dann, nach einer Weile, entspannten wir uns und sangen einander immer wieder den Titelsong aus dem Film Die Kinder des Kapitän Grant vor: »Sing uns dein Lied, alter Freund, Genosse Wind …« Der Genosse gab sich Mühe.
Gleich am ersten Tag lernten wir am Ufer eine Familie aus Brandenburg kennen, die sich genau wie wir nach Einsamkeit und Abgelegenheit gesehnt und ebenfalls eine Hütte am Vulkan gemietet hatte. Wir freuten uns außerordentlich, sie getroffen zu haben, als wäre sie unser Kapitän Grant, als hätten wir die ganze Reise nur unternommen, um sie zu finden. Rainer, das Oberhaupt der Familie, war ein Mann der Tat und langweilte sich furchtbar auf der Insel. Er zählte die Tage und erzählte uns, wie schön sie es bei sich in Finsterwalde hätten. Zu Hause hatte er einen
kleinen Kunststoffverarbeitungsbetrieb, dort führte er das spannende Leben eines Geschäftsmannes, konnte auf Dienstreisen gehen, Aufträge vergeben und Leute einstellen oder feuern. Hier, am Fuße des Vulkans, fühlte er sich wie angekettet. Innerhalb weniger Tage hatte Rainer die gesamte Flora und Fauna der Insel studiert, keine Kakteenblüte, kein Kleinkrebs entging seiner Aufmerksamkeit. Jeder Winkel dieser kargen Landschaft war ihm vertraut, von jedem Lavastein konnte er genau sagen, wann genau, unter welchen Umständen und warum überhaupt er vom Vulkan ausgespuckt worden war. Die Geschichte dieser Insel ist voller Geheimnisse, erzählte er uns. Trotzdem hätte Rainer sie mit all ihren
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