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Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts

Titel: Es gab keinen Sex im Sozialismus - Legenden und Missverständnisse des vorigen Jahrhunderts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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und Verletzungen beschränkte er sich jedoch aufs Angeln, während sein Direktor sich der Taubenzucht zuwandte.
    Während der Vorbereitung der Olympischen Spiele wurde in Moskau der Bau einer Reihe neuer Sportanlagen angeordnet. Viele dieser Objekte wurden jedoch nie zu Ende geführt, so dass überall in der Stadt tiefe Baugruben zurückblieben, die sich schnell mit
Wasser füllten. Sofort bildeten sich darin primitive Lebensformen, die immer komplexer wurden und schon bald quaken und springen konnten und Seemöwen anzogen, die ihrerseits kleine Fische in die Baugruben brachten. So besaßen wir plötzlich ein natürliches Fischbecken direkt vor unserer Haustür. Nicht nur mein Vater, beinahe alle Männer in der Nachbarschaft widmeten sich daraufhin dem Sportangeln.
    Manchmal, wenn es mehrere Tage nicht geregnet hatte und das Wasser in der Baugrube absank, wurden aus der Fischjagd Leichtathletikkämpfe. In der Baugrube herrschte dann das reinste Chaos. Frösche, Möwen, Fische und mein Vater mit seinen Freunden sprangen auf dem matschigen Boden des Sees herum und versuchten, einander mit allen Mitteln zu fangen beziehungsweise zu entkommen. Man hörte es quaken, gackern und rufen: »Gleich hab ich dich!«
    Die Fische in der Baugrube waren klein und ungenießbar, aber das interessierte niemanden, es ging schließlich um den Sport. Mehrmals lud mich mein Vater ein mitzukommen, doch ich hatte damals ganz andere Interessen. Ich träumte von fremden Ländern, las gern sentimentale Liebesgedichte und versuchte, selber welche zu schreiben. Am Wochenende besuchte ich oft die Dichterabende in einem Kulturhaus in der Nähe des weißrussischen Bahnhofs. Dort lasen alte
Poeten ihre Gedichte vor einem kleinen Publikum vor. Der Hauptdichter war ein bärtiger Typ, der immer eine schwarze Sonnenbrille trug, etwas abseits von den anderen saß und sehr eindringlich war:
    Es regnet wieder.
Ich und die Spinne sitzen vor dem nassen Fenster
Und schauen in die Ferne.
Dort aus dem Nebel taucht das gelobte Land auf.
Ich lächle die Spinne an.
Na, Kleine, fliegen wir dorthin?
Du weißt doch, sagt die Spinne,
Dass ich nicht fliegen kann – nur krabbeln.
Ach so, na dann – krabbel weiter.
    Ich fühlte mich wie diese Spinne, auf Ewigkeit dazu verdammt, um den weißrussischen Bahnhof herumzukrabbeln.
    In diesem sportlichen Jahr 1980 geschah aber in Moskau etwas, was diese Stadt vorher nicht gekannt hatte. Ende November versperrten etwa tausend Fans des Fußballklubs Spartak den Ausgang des Stadions Dynamo, in dem die Mannschaft von Dynamo Moskau gerade gegen den Armeeklub ZSKA gespielt hatte,
und prügelten die herausströmenden Besucher nieder. Zuerst die Dynamo-Fans, dann die ZSKA-Fans und anschließend auch noch die herbeigeeilte Miliz. Sie skandierten dabei: »Spartak Champion«, obwohl Spartak an dem Tag gar nicht gespielt hatte. Ein neues Phänomen kam dadurch in das sowjetische Leben, eine Freizeitbeschäftigung und Sportart zugleich, die in ihrer Brutalität alle anderen übertraf – der Hooliganismus.
    Die rot-weißen von Spartak waren überall präsent. Dynamo und ZSKA besaßen als Mannschaften des Innen- beziehungsweise des Verteidigungsministeriums ihre eigenen Stadien, Spartak als eine von den Gewerkschaften ins Leben gerufene Volksmannschaft, war dagegen lange Zeit heimatlos. Während sich die meisten Dynamo- und ZSKA-Fans also in der Nähe ihrer Stadien aufhielten, konnte man auf die Spartak-Fans überall stoßen. Ihr Klub spielte in der Unionsliga, der sympathische Torwart Renat Dasaew war ihr Kapitän, der seine launische Mannschaft oft im letzten Moment rettete. Spartak hatte einen lebensfrohen Spielstil. Seine Spieler integrierten gerne Elemente aus anderen Sportarten in ihre Aktionen – im Grunde alles vom Hürdenlaufen übers Kickboxen bis zum Hammerwerfen, oft hart an der Grenze des Erlaubten, dafür aber mit guten Ergebnissen. Anders
als bei den anderen Klubs gab es bei Spartak nie einen Grund, ihn nicht zu mögen. Die Fans des Vereins waren die lustigsten und kommunikativsten auf den Tribünen des Landes. Gern besuchten sie die Spiele der anderen Fußballvereine, um deren Fans in einer fröhlichen, unkonventionellen Atmosphäre kennenzulernen. Mit Erstaunen beobachteten die Omas und Opas diese neue rot-weiße Gefahr, die gut organisiert durch die Städte zog und unermüdlich skandierte: »Spar-tak! Cham-pi-on!«
    »Früher gab es so etwas nicht«, schüttelten die Alten den Kopf. Wenn sie aber von der Kolonne

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