Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
er.
***
Die darauffolgende Woche brachte nichts Neues über Clémence. Danglard verfiel ab drei Uhr nachmittags in einen alkoholischen Dämmerzustand, den er durch ein paar laute, ohnmächtige Ausbrüche unterbrach. Dutzende von Menschen hatten die Mörderin in ganz Frankreich angezeigt. Morgen für Morgen legte Danglard die abschlägigen Berichte über die durchgeführten Nachforschungen auf Adamsbergs Schreibtisch.
»Bericht von den Ermittlungen in Montauban. Wieder nichts«, sagte Danglard.
Und Adamsberg hob den Kopf, um »Sehr gut. Ausgezeichnet« zu antworten. Schlimmer noch: Danglard glaubte, daß er die Berichte nicht einmal las. Abends befanden sie sich genau an der Stelle, an der er sie morgens hingelegt hatte. Also nahm er sie, um sie in die Akte Clémence Valmont einzuordnen.
Danglard konnte es sich nicht verkneifen zu zählen. Clémence Valmont war jetzt seit siebenundzwanzig Tagen verschwunden. Häufig rief Mathilde bei Adamsberg an, um Neues von der Spitzmaus zu erfahren. Danglard hörte ihn antworten: »Es gibt nichts Neues. Nein, ich gebe nicht auf, was veranlaßt Sie, das zu glauben? Ich warte auf ein paar kleine Informationen. Im Augenblick eilt nichts.«
Nichts eilt. Der Leitbegriff von Adamsberg. Danglard war mit seinen Nerven am Ende, während Castreau, der sich sehr verändert hatte, die Dinge mit ungewöhnlicher Nachsicht zu nehmen schien.
Dann war auf Adamsbergs Bitten Reyer mehrfach aufgetaucht. Danglard fand ihn weniger verbittert als zuvor. Er fragte sich, ob das daran lag, daß er das Kommissariat inzwischen gut kannte, daß er leichter die Wände entlanggehen konnte, indem er sich mit den Fingern vorantastete, oder ob die Entdeckung der Mörderin seinen Sorgen ein Ende bereitet hatte. Um nichts in der Welt hätte Danglard sich vorstellen wollen, daß der schöne Blinde weniger verbittert war, weil Mathilde ihm Zugang zu ihrem Bett gewährt hatte. Kam gar nicht in Frage. Aber wie sollte er das herausfinden? Er war am Anfang des Gesprächs mit dem Kommissar dabeigewesen.
»Da Sie nichts mehr sehen, sehen Sie anders«, hatte Adamsberg gesagt. »Ich hätte gern, daß Sie mir so lange wie möglich von Clémence Valmont erzählen, daß Sie mir jeden einzelnen Eindruck beschreiben, den sie auf Ihr Gehör gemacht hat, all Ihre Wahrnehmungen, die ihre Anwesenheit hervorgerufen hat, alle Einzelheiten, die Sie erahnt haben, wenn Sie in ihre Nähe kamen, wenn Sie sie gehört, sie gespürt haben. Je mehr ich über sie weiß, desto besser komme ich damit zurecht. Und Sie, Reyer, sind zusammen mit Mathilde derjenige, der sie am besten gekannt hat. Vor allem kennen Sie all das Nicht-Sichtbare. All das, was man nicht weiter beachtet, weil unser Auge ein rasches Bild aufnimmt, das ausreicht, uns zufriedenzustellen.«
Bei jedem Besuch war Reyer lange dageblieben. Durch die offene Tür sah Danglard, wie ihm Adamsberg, an die Wand gelehnt, sehr aufmerksam zuhörte.
***
Es war halb vier Uhr nachmittags. Adamsberg öffnete sein Notizbuch auf Seite drei. Er zögerte eine ganze Weile, dann schrieb er:
»Morgen fahre ich aufs Land, um Clémence zu suchen. Ich glaube, daß ich mich nicht getäuscht habe. Ich erinnere mich nicht mehr, ab wann ich das herausgefunden habe, ich hätte es aufschreiben sollen. Schon von Anfang an? Oder ab den faulen Äpfeln? Alles, was mir Reyer erzählt, bestärkt mich in diesem Eindruck. Gestern bin ich bis zur Gare de l'Est gelaufen. Ich habe mich gefragt, warum ich Bulle bin. Vielleicht, weil man in diesem Beruf Dinge suchen muß und die Chance hat, sie zu finden. Das tröstet über das übrige hinweg. Denn im übrigen Leben bittet einen keiner, irgendwas zu suchen, und man riskiert nicht, etwas zu finden, da man nicht weiß, was man sucht. Zum Beispiel die Blätter: Ich verstehe immer noch nicht genau, warum ich sie zeichne. Gestern an der Gare de l'Est hat mir jemand in einem Café gesagt, daß das beste Mittel, keine Angst vor dem Tod zu haben, darin bestehe, das Leben eines Arschlochs zu führen. So habe man nichts zu bedauern. Das schien mir keine sehr gute Lösung.
Aber ich habe keine Angst vor dem Tod, gar nicht so sehr. Also betrifft mich das im Grunde nicht. Ich habe auch keine Angst, allein zu sein.
Mir wird klar, daß ich alle meine Hemden auswechseln müßte. Ich würde gern die universelle Kleidung finden. Dann würde ich sie in dreißig Exemplaren kaufen und hätte bis zum Ende meiner Tage mit diesen ganzen Kleidungsgeschichten nichts mehr
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