Es Geht Noch Ein Zug Von Der Gare Du Nord
ausreicht, einem das Denken zu vermasseln.«
Danglard beobachtete das angespannte Gesicht von Adamsberg. Unmöglich zu sagen, ob es wegen des Fadens war, der sich gerade verknotet hatte, oder wegen der Landpartie.
»Mist«, sagte Adamsberg. »Der Faden hat einen Knoten bekommen. Das ist scheußlich. Es heißt, die goldene Regel bestehe darin, den Faden immer in Richtung der Spule zu nehmen. Sonst kriegt man Knoten. Verstehen Sie, was ich sagen will? Ich muß ihn verkehrtherum genommen haben, ohne darauf zu achten. Und jetzt habe ich einen Knoten.«
»Meiner Meinung nach liegt es daran, daß er zu lang ist«, bemerkte Danglard.
Nähen ist beruhigend.
»Nein, Danglard. Ich habe eine gute Länge genommen, nicht länger als von der Hand bis zum Ellbogen. Morgen früh um acht brauche ich einen Kastenwagen, acht Männer und Hunde. Der Gerichtsmediziner muß auch mit auf die Reise.«
Er stach mehrfach durch den Stoff, vernähte den Faden, riß ihn ab und strich seine Hose glatt. Er verließ den Raum, ohne abzuwarten, ob Danglard Kopf und Magen in Ordnung halten würde. Danglard hatte auch keine Ahnung.
***
Charles Reyer kam zurück in seine Wohnung. Er fühlte sich entspannt und nutzte es aus, da er wußte, daß es nicht lange andauern würde. Seine Gespräche mit Adamsberg hatten ihn besänftigt, er wußte nicht, warum. Er stellte nur fest, daß er seit zwei Tagen niemandem Hilfe beim Überqueren der Straße angeboten hatte.
Er hatte mit dem Kommissar sogar ohne besondere Anstrengung, aufrichtig und in großer Ruhe über Clémence, über Mathilde und einen ganzen Haufen anderer Dinge reden können. Adamsberg hatte ebenfalls ein paar Sachen erzählt. Sachen von sich selbst. Nicht immer ganz klar. Leichte und schwere Sachen. Bei ihm war das schwer zu sagen. Weisheit der Kinder, Philosophie der Alten. Er hatte es Mathilde im Restaurant erzählt. Er hatte sich über das, was in der sanften Stimme des Kommissars mitschwang, nicht getäuscht. Dann war der Kommissar an der Reihe gewesen, ihn zu fragen, was sich hinter seinen schwarzen Augen abspielte. Er hatte es ihm gesagt, und Adamsberg hatte ihm zugehört. All die kleinen Geräusche eines Blinden, all seine schmerzhaften Wahrnehmungen in der Dunkelheit, all seine gute Sicht in der Schwärze. Wenn er innehielt, sagte Adamsberg: »Fahren Sie fort, Reyer. Ich höre Ihnen aufmerksam zu.« Charles stellte sich vor, daß er Adamsberg hätte lieben können, wenn er eine Frau gewesen wäre, aber zugleich wäre er darüber verzweifelt, ihn nicht zu fassen zu kriegen. Er gehörte zu dem Typ Mensch, dem man besser nicht allzu nahe kommen sollte. Oder man müßte gleichzeitig lernen, nicht darüber zu verzweifeln, daß man ihn nie würde fassen können. Ja, irgend so etwas.
Aber Charles war ein Mann, und darauf legte er Wert. Außerdem hatte Adamsberg ihm bestätigt, daß er schön sei. Also dachte Charles, daß er - da er ein Mann war - gerne Mathilde geliebt hätte.
Da er ein Mann war.
Aber versuchte Mathilde nicht, sich in der Tiefe des Wassers aufzulösen? Versuchte sie nicht, nichts mehr von terrestrischen Verwerfungen zu hören? Was war mit Mathilde geschehen? Niemand wußte es. Warum liebte Mathilde dieses verdammte Wasser? Mathilde zu fassen kriegen? Charles fürchtete, daß sie dann wie eine Sirene fliehen würde.
Er blieb gar nicht erst vor seiner Wohnung stehen, sondern stieg direkt zum Fliegenden Knurrhahn hinauf. Er tastete nach dem Klingelknopf und klingelte zweimal.
»Ist was mit dir?« fragte Mathilde, als sie die Türe öffnete. »Oder hast du Neuigkeiten über die Spitzmaus?«
»Sollte ich?«
»Du warst doch mehrmals bei Adamsberg, oder? Ich habe ihn vorhin angerufen. Es scheint, daß er morgen etwas Neues über Clémence erfahren wird.«
»Warum interessiert dich Clémence so sehr?«
»Ich habe sie gefunden. Es ist meine Spitzmaus.«
»Nein, sie hat dich gefunden. Warum hast du geweint, Mathilde?«
»Ich soll geweint haben? Ja, ein bißchen. Woran hast du das gemerkt?«
»Deine Stimme ist ein bißchen feucht. Das hört man sehr gut.«
»Mach dir keine Sorgen. Jemand, den ich über alles liebe, fährt morgen weg. Das bringt einen zwangsläufig sofort zum Heulen.«
»Darf ich dein Gesicht kennenlernen?« fragte Charles und hielt ihr seine Hände entgegen.
»Wie willst du das machen?«
»So. Du wirst sehen.«
Charles streckte seine Finger bis zu Mathildes Gesicht und erforschte es behutsam wie ein Pianist seine Klaviatur. Er war
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