Es geht uns gut: Roman
Salbe versorgt. Nachdem sie fünf Minuten auf dem Sessel verschnauft hat, schleudert sie das halbe Dutzend Waben, das seit fast einer Woche in der Werkstatt liegt. Richard hat Alma während dieser Zeit so sehr in Atem gehalten, daß sie zu nichts gekommen ist. Nach dem Schleudern begutachtet Alma noch einmal ihren Unterschenkel. Die Geschwulst hat sich weiter vergrößert. Alma nimmt an, daß mindestens einer der Stiche in ein empfindliches Gefäß gegangen ist. Jetzt schmerzt auch das Knie und ein wenig alle anderen Gelenke, entweder durch die Vergiftung selbst oder, was Alma eher glaubt, weil das Gift Hand in Hand mit der Wetterlage den Blutdruck so gesenkt hat, daß die Abfallstoffe aus den Gelenken nicht mehr abtransportiert werden. Da es schon auf halb elf zugeht, verordnet Alma sich eine Stunde Ruhe. Zwar wollte sie vor dem Mittagessen noch die Fuchsien und Usambaraveilchen spritzen beziehungsweise abpinseln, sie hat diese bereits gestern in die Pergola getragen, damit sie die Blumen bis in einigen Tagen nicht von Blattläusen zugrunde gerichtet findet. Aber wie die Dinge liegen, wird sie sich diese Aufgabe und auch die Behandlung der Ameisen, die die Blattläuse verteilen, für den frühen Nachmittag aufsparen müssen. An eine Fortsetzung der Arbeit an den Bienenstöcken ist sowieso nicht zu denken, denn die steigenden Temperaturen werden die Biester nicht friedlicher machen.
Im unteren Stockwerk ist von Richard nichts zu sehen. Als Alma die Küche betritt, um sich einen Dunstumschlag mit Essigwasser zu machen, bemerkt sie immerhin, daß Richard schon aufgestanden ist. Am Küchentisch liegt der Stellkalender von der Sparkasse mit einem auf der Rückseite des Vorwochenblattes aufgesetzten halbfertigen Telegramm. Darin bittet Richard seinen Freund Loisl um eine Familienhelferin.
Lieber Loisl stop habe die große Bitte stop um Bereitstellung einer Familien
Dann stockt der Text, weil Richard offenbar nicht mehr wußte, wie man helferin schreibt. Er hat ein halbes Dutzend Varianten probiert, muß über diese Versuche aber selbst dermaßen entsetzt gewesen sein, daß er das Geschriebene immer wieder mit einer solchen Gründlichkeit durchgestrichen hat, daß das Papier von der Mine des Kugelschreibers an mehreren Stellen aufgerissen wurde. Tiefe, kreuz und quer laufende Kerben haben sich in die darunterliegenden Blätter eingefurcht. Irgendwann hat Richard die Versuche aufgegeben. Alma hofft, daß damit das ganze Vorhaben eingeschlafen ist (wozu eine Familienhelferin? und was, bitte, hat Loisl damit zu tun?). Aber sie hält es nicht eigentlich für wichtig, eher für etwas Zufälliges, aus dem sich (vermutlich) nichts ableiten läßt. Alma hat schon länger keine Lust mehr, sich über derlei Dinge den Kopf zu zerbrechen.
Sie reißt das Blatt vom Kalender herunter und zerknüllt es. Aus den Augen, aus dem Sinn; was in erster Linie für Richard gelten soll. Sie nimmt ein Aspirin und zur Sicherheit auch ein Pyramidon. Dann streckt sie sich im Wohnzimmer auf der ledernen Ottomane aus, die schon ganz ausgedorrt ist und staubig riecht. Unter den sich im Wind wellenden Vorhängen und trotz des Tickens der Uhr und des sausenden Geräuschs, das der Perpendikel beim Hin- und Herschwingen erzeugt, schläft Alma augenblicklich ein. Dabei träumt sie von Ingrid, und zwar so plastisch, daß sie nach dem Wachwerden noch eine Weile liegenbleibt, um den Traum nachwirken zu lassen. Sie befürchtet, daß die Bilder, wenn sie aufsteht, schneller verblassen, und daß auch das Glück rascher abklingt, das sie empfindet, weil sie ihre Tochter gesehen hat ohne das Gefühl, Ingrid lebe nicht mehr.
In dem Traum ging Alma mit Richard und Ingrid, die etwa fünfzehn war, durch Moos bei einer bestimmten Brücke am Mauerbach, die es leider nicht mehr gibt. Man hatte von dort einen Blick auf den Tulbinger Kogel, und im tiefen Wasser unmittelbar unter der Brücke standen immer Forellen. In dem Wasser schwamm plötzlich auch Ingrid. Alma freute sich an den kräftigen Bewegungen und an dem schön gebauten Körper und dachte (wie schon öfters): Da gibt es Leute, die behaupten, dieses wunderbare Mädchen sei tot. Ingrid sprang aus dem Wasser und stand wieder auf der Brücke mit ihrem zurückhaltenden Lächeln, das sie hatte, wenn sie sich über etwas besonders freute. Sie schien Alma größer und schlanker als zuletzt, nur im Gesicht war sie vielleicht ein bißchen voller. Sie trug ihren Roßschwanz und eine Bluse, die an ein Modell erinnerte, das
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