Es geht uns gut: Roman
dem Vortag Sauerstoff, weil das Herz nicht mehr das kräftigste ist, wie Alma sich hat sagen lassen. Aufgrund der ganzen Strapazen und der schweren Verletzung hat Richard erstmals Wasser in der Lunge. Er nimmt fast keine Nahrung zu sich, und die meiste Zeit redet er mit der Deckenlampe und phantasiert über Dinge und Personen, die nur mehr der Vergangenheit angehören. Lediglich sein Wortschatz war, zumindest am Vortag, merklich besser als in der Zeit vor dem Unfall. Immerhin. Während Almas Besuch, als Richard von einer Krankenschwester eine Spritze zwecks Blutverdünnung verabreicht bekam, drohte er wie in alten Tagen mit dem Rechtsanwalt.
Er murmelte schwach, aber verständlich:
– Der Rechtsanwalt wird Unterlassung anmahnen. Für den Fall von Säumigkeit erfolgt binnen sechs Wochen –.
Dann eines dieser Phantasiewörter, mit denen Richard sich oft behilft. Es klang weder nach Anzeige noch nach Klage , etwas in dieser Richtung wird aber bestimmt gemeint gewesen sein.
– Bis in sechs Wochen haben wir das ausgestanden, Herr Doktor, beruhigte ihn die Krankenschwester.
Und Richard beinah gütig:
– Das will ich allen Mitgliedern des Hohen Hauses empfehlen.
Was bitte spielt es da noch für eine Rolle, wo in der Werkstatt die alten Beuten stehen?
Keine. Es spielt keine Rolle. Ja, ich verstehe. Von welcher Seite man es auch betrachtet, es macht keinen Unterschied. Es wäre nur, um alles so zu erhalten, wie es war, als es noch eine Familie gab. Es wäre nur, um sich einen kleinen Ersatzaltar zu bauen gegen die Bürde, im Haus völlig frei schalten und walten zu können, und um sich selbst eine kleine Beschränkung aufzuerlegen, in eigener Sache, nicht in Sachen Ingrids oder Richards. Ingrid (sie vor allem) würde sich über die Skrupel ihrer Mutter bestimmt amüsieren.
Für ihren Seelenfrieden möchte Alma die Umstellung trotzdem rückgängig machen, würde es auch tun, wenn sie sich der körperlichen Anstrengung, die mit dem Zurücktragen verbunden wäre, noch gewachsen fühlte. Fühlt sie sich aber nicht. Deshalb vertagt sie das Projekt auf später. Sie schlüpft in die schiefgelaufenen Gartenschuhe und geht nach draußen, um in aller Gemächlichkeit das Bienenhaus auszukehren, ihre emotionale Aufwärmstube. Vor einem halben Jahrhundert, als Richard das Bienenhaus im Herbst nach dem Anschluß einem ins Exil gehenden Nachbarn abkaufte und als Ganzes über die Mauer hieven ließ, hätte Alma niemals vermutet, daß die Art, wie sie sich damals fühlte, bei der Arbeit mit den Bienen erhalten bleiben würde, egal ob während des Krieges oder nach dem Tod der Kinder oder jetzt, da Richard immer weniger wird.
Richard liegt auf Klasse, in einem Zweibettzimmer, an dessen Tür Alma leise klopft, ehe sie die Klinke nach unten drückt. Der kleine Raum wirkt größer als am Vortag, weil der Platz für das zweite Bett leer ist. Richard liegt ausgestreckt in seinem Bett wie die Maus in der Falle. Die Decke liegt eng an seinem Körper, die Arme oben drauf. Im rechten Handrücken zwischen den knotigen Sehnen steckt eine Kanüle, über die Richard Blut erhält. Sein Kopf liegt wie zur Präsentation in der Mitte des Kissens. Zwei Schläuche sind in die Nase gestoppelt, die Kinnladen sind hart und die dünnen Lippen wie zusammengelötet. Die Augen hingegen hat Richard weit geöffnet. Ohne auf Almas Begrüßung zu reagieren, schaut er mit bestürzter Miene an die Decke, als sähe er dort Dinge, zu denen Alma keinen Zugang hat. Woran er in diesem Augenblick denkt, in welcher Welt er ist. Alma würde es gerne wissen.
– Ich bin’s, pünktlich wie eine Engländerin.
Aber Richard scheint sie wieder nicht zu erkennen, nicht einmal an der Stimme.
– Ich, Alma. Willst du mich nicht ansehen?
Sie zieht ihre Jacke aus, hängt sie an einen der Haken innen an der Tür. Sie legt das mitgebrachte Obst auf den kleinen Tisch unter dem Fenster und zieht einen Stuhl zu Richards Bett. Ehe sie sich setzt, beugt sie sich über ihren Mann und gibt ihm einen Kuß auf die gelblich blasse Stirn, dort, wo diese nicht von Sindelkas Schlägen mitgenommen ist. Richards Haut fühlt sich heiß an. In den Augen hat er geplatzte Adern. Von seiner strohig trockenen Handinnenfläche blättert Schorf ab. Darunter erkennt man die grün schimmernden Adern.
– Nessi? fragt er und meint seine Anfang des Jahres verstorbene Schwester, die ihn ohnehin nur besuchte, solange die Möglichkeit bestand, etwas beiseite zu schaffen.
– Ich bin’s, Alma,
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