Es geht uns gut: Roman
gegeben, im Sommer 1986, als die Gärten radioaktiv waren. Die damalige Entscheidung kam nicht unvorbereitet, es war schon länger klar, daß es irgendwann nicht mehr gehen wird. Trotzdem kann Alma diesen Schritt noch immer nicht ganz verwinden. Wieder und wieder sieht sie Richards große angstvolle Augen, und sie möchte seine Hand nehmen und ihm sagen, so, Schluß, du kommst mit nach Hause. Oft, speziell in letzter Zeit, wünscht sie sich diesen Moment herbei. Sie weiß selbst nicht, wie ihr geschieht, aber seit Richards Geist gänzlich zerrüttet ist (nicht dieses zermürbende Halb-halb von Sinn und Unsinn, das etwas Gespenstisches hatte), hängt sie wieder sehr an ihm. Anfangs hat sie ihn öfters tagweise mit nach Hause genommen, manchmal auf sein inständiges Bitten hin. Aber selbst zu Hause findet er sich nicht mehr zurecht, so stark hat er abgebaut. Es ist, als würde ein selbstvernichtender Stachanov, unterstützt von mehreren kräftigen Gehilfen, in Richards Gedankengängen den Geist wegschaffen, Tag für Tag, bis nichts mehr zu holen ist und nur mehr ein feuchter Wind durch die tauben Systeme dieser armen Psyche weht.
Weihnachten vergangenen Jahres wollte Alma, daß Richard die Feiertage in der vertrauten Umgebung verleben kann. Aber er war ganz abwesend, und die meiste Zeit glaubte er sich in einer Kapelle, vermutlich wegen der Kerzen. Er sang mehrmals unangekündigt Großer Gott wir loben dich , und als Alma ihn soweit hatte, daß er begriff, welche Bewandtnis es mit dem Weihnachtsbaum und den Geschenken hat (Richard, das ist für dich, schau, das sind Weihnachtsgeschenke für dich, Richard, Weihnachtsgeschenke, es ist Weihnachten), traten ihm Tränen in die Augen, weil echte Kerzen am Baum leuchteten und er fürchtete, daß das Haus abbrennt. Alma holte den Feuerlöscher aus dem Keller und stellte ihn Richard in den Schoß, das beruhigte ihn ein wenig. Er umarmte den Feuerlöscher, stimmte die erste Strophe von Oh Tannenbaum an. Aber mittendrin brach er ab und wünschte sich, dies möge sein letztes Weihnachten sein. Anschließend sagte er:
– Komm, wir gehen weg von hier, das ist kein Ort für uns.
Kaum hatte Alma ihm gezeigt, wo er sich befindet, hier ist deine Küche, dein Wohnzimmer, das du gemeinsam mit mir eingerichtet hast, die hartnäckigen Möbel, hier ist dein Arbeitszimmer, dein Aktenschrank, das ist der Schreibtisch, an dem du deine Reden geschrieben hast. Kaum schien es, als habe er erfaßt, daß er die Zimmer des eigenen Hauses abgeht, sagte er wieder:
– Und wo werden wir schlafen? Sie werden jemand anderen ins Bett legen, und wir werden kein Bett haben. Schau, daß du mit diesen Leuten sprichst und einen Schein löst und wir hinausgehen können. Wir werden zu Fuß in den nächsten Ort marschieren, dort ein Zimmer beziehen und dann sehen, was sich für die Zukunft machen läßt.
Über beide Feiertage hinweg ließ die Sorge um einen Schlafplatz Richard nicht los. Ständig brütete er über Alternativen, wo er mit Alma hingehen könnte. Es war unmöglich, ihn von diesem Wahn für länger als eine Stunde abzubringen.
Und jetzt: Jetzt sieht es aus, als ob ausgerechnet ein Streit ums Bett dazu führt, daß ein nächstes Weihnachten für ihn tatsächlich nicht mehr stattfinden wird.
Donnerstag vor vier Tagen wurde Hofrat Dr. Sindelka, Richards Zimmernachbar im Pflegeheim, in Richards Bett angetroffen. Richard lag mit einem Oberschenkelbruch und mehreren Platzwunden am Fußboden davor. Was passiert war? Das läßt sich nur vermuten, da es keine Zeugen gibt und Richard, als man ihn fand, bereits wieder vergessen hatte, wie er in diese mißliche Situation geraten war. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Dr. Sindelka, der ebenfalls ein hoffnungsloser Sklerotiker ist, im Zimmer geirrt und gedacht, sein Bett sei widerrechtlich von Richard okkupiert. Die beiden haben sich von Anfang an nicht vertragen, teils aus politischen Gründen, teils aus Eifersucht, wer sich in physisch besserer Verfassung befindet. Sindelka muß mit einem hölzernen Kleiderbügel auf Richard losgegangen sein, auf diese Weise gelang es ihm, Richard aus dem Bett zu werfen und es für sich in Beschlag zu nehmen. Richard wird seither in Meidling behandelt, wo man ihn umgehend operieren wollte. Doch bei den Vorbereitungen auf die Operation stellte sich eine ausgeprägte Anämie heraus – Ursache unbekannt –, weshalb die Operation auf unbestimmte Zeit verschoben werden mußte. Richard bekommt Blutkonserven und seit
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