Es geht uns gut: Roman
ihre Pupillen. Zehn Minuten nach Peter ist auch Ingrid eingeschlafen. Als sie wieder aufwacht, weil sie Regelschmerzen hat, weiß sie, noch bevor sie die Augen öffnet, daß es dunkel ist und regnet. Die Luft ist erfüllt von einem singenden, echohaften Geräusch, das von den Tropfen erzeugt wird, die der Wind in Stößen gegen das Tor weht.
Vorsichtig, um sich den Kopf nicht anzuhauen, kriecht Ingrid aus dem Wagen. Der bröselige Estrich unter ihren Füßen fühlt sich kalt an. Mit weit ausgestreckten Armen tappt sie zur Front, an dessen Mittelpfeiler der am leichtesten zu findende Schalter angebracht ist. Sie knipst das Licht an. Noch während ihre Augen sich daran gewöhnen, sucht sie im Schimmer zweier 40-Watt-Birnen ihre Schultasche mit der Binde darin, dann ihre Kleider, wovon Peters Schlaf nicht sonderlich gestört wird. Er zieht den Kopf unter die Decke und knirscht weiter mit den Zähnen. Ingrid schlüpft hastig in ihre Kleider, dann kriecht sie nochmals zu Peter in den Wagen, in die aus den Decken aufsteigende Wärme. Sie küßt Peter hinter das oben liegende Ohr und auf die Schläfe, umarmt ihn, so gut es geht, fährt mit der einen Hand in seinen Nacken und berührt das Haar, dicht und stachelig vom Haarschnitt (wann zuletzt?) und feucht, das fühlt sich gut an und vertraut. Er murmelt schlafend oder im Halbschlaf (sie weiß es nicht), zweimal:
– Es reicht.
– Es reicht.
Sehr charmant.
Ingrid überprüft, ob die Knopfleisten von Kleid und Strickjacke geradesitzen, dann ist das Licht schon wieder gelöscht und sie draußen im Regen und auf dem Fahrrad. Sie fährt den gleichen Weg zurück, den sie gekommen ist, diesmal ohne sich zu beeilen. Wegen der menstrualen Krämpfe ist ihr nicht besonders nach Bewegung zumute, sie wird auch nicht weniger naß, wenn sie sich müde strampelt. Auch der Krach, den es daheim setzt, wird nicht milder ausfallen, ob sie jetzt um fünf vor oder fünf nach Irgendwann eintrudelt. Ihr Sündenkonto ist überzogen, so oder so, und sie kann nur hoffen, daß ihr Ausbleiben niemandem auffällt. Alles schon dagewesen.
Kurz vor der Stranzenberggasse fragt sie einen alten Mann nach der Uhrzeit.
– Zwanzig vor zehn, sagt der Mann.
Ingrid bedankt sich, sie wünscht eine gute Nacht. Der Mann hat bereits seinen regenglänzenden Hut gelupft, da sagt er noch:
– Ich gehe und zünde ein paar Kerzen auf den Gräbern an, damit meine Toten auch eine Freude haben, wenn sie schon tot sein müssen.
Der Himmel ist niedrig zugezogen, die leichten Tropfen fallen durch graues Gaslicht in einen Wasserfilm, der das Licht stark genug reflektiert, daß sich die Vorüberfahrende darin als Vorüberfahrende spiegelt. Die Reifen sind von Wasser umwickelt, sie zischen leise am unruhigen Grund. Radios schallen in Wellen mit emphatischen Stimmen durch offene Fensterquadrate. Die Stimmen bleiben für sich, jenseits der mit Gemüse bepflanzten Vorgärten. Beim Treten im Regen fühlt sich der Rock auf den Schenkeln hart an. Zwei Autos stürzen in dichter Folge vorbei, hupend wie zu einer Hochzeit.
Wenn ich Glück habe, sind heute andere Dinge wichtiger als ich.
Unterwegs in den Straßen, die nach Hause führen und von dort weg und an zu Hause vorbei.
Donnerstag, 3. Mai 2001
Am nächsten Morgen sind die Tauben immer noch da. Philipp fragt sich, ob die Vögel wissen, was am Vortag geschehen ist. Vielleicht hat das Gehirn von Tauben nicht die Kapazität, sich Steinwald und Atamanov zu merken. Vielleicht haben die Tauben die Arbeiter und das Massaker schon wieder vergessen. Philipp hält das für möglich eingedenk einer Behauptung Johannas, daß das Erinnerungsvermögen eines Goldfisches nur für die zurückliegenden zwei Sekunden reicht, nicht einmal für eine Runde im Glas.
Trotz des gestrigen Blutbades klingt das Gurren der Tauben völlig routiniert.
Zu Mittag nieselt es.
– Daß wir so ein Wetter haben, sagt Steinwald.
Er und Atamanov haben in der Früh einen hellblauen, gut halbmeterdicken Schlauch aus Hartplastik installiert, der vom Dachbodenfenster direkt zum Abfallcontainer führt. In diesen Schlauch schaufeln sie den Taubendreck, Ladung um Ladung, so geschwind, daß auch Philipp Lust bekommt, die Ärmel hochzukrempeln und etwas zum Kämpfen zu haben. Er hebt in einem verkrauteten Winkel des Gartens mit dem Spaten ein Loch für die Kadaver der erschlagenen Jungvögel aus. Es sind unglaublich viele. Philipp zählt sie, bis das Zählen seinen Reiz verloren hat, das ist bei
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