Es geht uns gut: Roman
es in der Gegenwart leichter fällt, sich einzubilden, daß man weiß, was man tut.
Johanna, die Wettersammlerin, der Wetterfrosch (die Wetterhenne?) sagt: Je geistreicher du zu sein versuchst, Philipp, desto mehr rennst du vor dir selbst davon. Deine Klugheit ist dein bevorzugtes Mittel, dich vor dem zu drücken, wofür du deine Klugheit eigentlich verwenden solltest. Du läßt dich mit Vorliebe auf Dinge ein, die harmlos sind und ungefährlich – auf all das, was sich nicht lohnt. Auf all das, was außerhalb deiner Selbst liegt. Du bist ein Feigling. Feiger als ein Stallhase.
Und weiter: Alles, was du machst, ist ein Versuch, Kontrolle zu bewahren. Deine Passivität ist eine strategische Passivität, die dich vor der Gefahr bewahren soll, dich Dingen auszusetzen, die nicht angenehm sind. Dein Vater hat sich die Aufgabe zum Beruf gemacht, die Wahrscheinlichkeit von Verkehrsunfällen zu minimieren, und du versuchst dasselbe in deinem Privatleben. Du glaubst, du kannst den Katastrophen ausweichen oder wenigstens deine Probleme vereinfachen, indem du dich sowenig wie möglich bewegst. Deine Strategie ist es, drei Meter neben der Straße zu stehen, um den Preis, daß das Leben an dir vorbeigeht. Es ist alles nur, damit die Katastrophe ausbleibt.
– Ja, ja, ich hab es eh schon gewußt. Ich hab’s mir eh schon gedacht. Damit die Katastrophe ausbleibt. Stallhase. Würde nicht sagen, daß das etwas Neues ist. Trotzdem danke für die Belehrung.
Der Regen hat nachgelassen. Mit vor Konzentration gespitzten Lippen trägt Philipp einen Bananenkarton mit allerlei Papieren, die er im Zimmer der Großmutter aus den Kommoden gefischt hat, zum Altpapiercontainer vorne an der Straße. Er denkt sich, daß er für das Zeug sehr wohl Interesse hätte, wenn es statt von ihm von den Nachbarn weggeworfen würde. Aber so: Pech gehabt.
Der Container ist bereits randvoll mit Zeug, das ebenfalls er hineingeworfen hat. Er muß den Container nach vorne kippen und einen Fuß mehrmals in die Papiere stoßen, um den nötigen Platz zu schaffen.
Montag, 7. Mai 2001
Der Abfallcontainer, der schon Freitag nachmittag ausgetauscht worden ist, wird abermals ersetzt, und als der neue Container, der auch optisch ein neuer Container ist, neben der Treppe steht, hat Philipp endlich das Gefühl, mit der eigentlichen Arbeit beginnen zu können. Er wirft in großem Stil weg, was ihm seine Großmutter hinterlassen hat. Angesichts des neu gebrachten und sauberen Containers erscheint ihm diese Vorgehensweise weniger unanständig, wenn auch weiterhin unanständig genug, daß er sich selbst beschwichtigen muß: Denk bloß nicht drüber nach, ob du für dies oder das Verwendung hast oder irgendwann Verwendung haben könntest, überhör Johannas Aufrufe zu schlechtem Gewissen, ignorier die Einflüsterungen, die dir weismachen wollen, daß man’s übertreiben kann und daß einer, der sich so verhält, wie du dich verhältst, ein Leben lang ausgestoßen und einsam bleiben muß. Halt dir vor Augen, daß Selbstschutz ein gesunder Reflex ist und daß es dir freisteht, für dich zu entscheiden, was dir bekommt und was nicht. Erinner dich daran, daß Familiengedenken eine Konvention ist, die von denen erfunden wurde, die es nicht ertragen können, zu sterben und in Vergessenheit zu geraten. Denk an die Indianerstämme, in denen der das größte Ansehen gewinnt, der seinen Besitz am gründlichsten vernichtet, und fahre fort mit der Arbeit, denn sie ist notwendig und gut.
Unter dem Weggeworfenen ist zugegeben viel Tadelloses, Intaktes und Passables, jedenfalls, wenn man es vom Standpunkt reiner Zweckmäßigkeit betrachtet. So wundert es Philipp nicht, daß er von Steinwald bei der gemeinsamen Nachmittagsjause darauf angesprochen wird, ob die Dinge, die im Container landen, auch nach neuerlicher Prüfung nicht mehr gebraucht werden.
– Volltreffer, antwortet Philipp.
Er fügt hinzu, daß es ihm egal sei, was mit dem Zeug geschehe, mit dem Wurf in den Container gebe er jeglichen Besitzanspruch auf.
Also räumen Steinwald und Atamanov den Kofferraum des Mercedes voll. Sie schnappen sich sogar Flaschen mit Totenkopfetiketten, die Philipp für den Sondermüll zur Seite gestellt hat.
Als Philipp Bedenken äußert, das sei dann doch übertrieben, daß sie seinen Sondermüll verkaufen wollen, sagt Steinwald:
– Warum nicht? Die Zeit macht alles wertvoll.
Für derlei Anschauungen besitzt Philipp entschieden nicht das rechte Verständnis. Er erhebt Widerspruch,
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