Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
bin ick Jesus?», war die Antwort.
Er ging zur Thurmstraße hinunter und beschloss, einen Fachmann zu fragen, sprich einen Schaffner der Linie 4, die dort eine Haltestelle hatte.
«Wie komme ich von hier mit der Straßenbahn zum Knie?»
«Nie.»
«Wie?»
«Mit uns, da komm’ Se nie zum Knie.»
Kappe hatte das Gefühl, noch lange zu brauchen, um ein richtiger Berliner zu werden. «Wie soll ick das verstehen?»
«Is doch janz einfach: Wir sind die Große Berliner Straßenbahn und haben keene Linie, die zum Knie fährt. Det macht die Konkurrenz. Die mit die Buchstaben statt die Zahlen. Da drüben, Alt-Moabit, fährt die Linie Q zum Bahnhof Halensee.»
Kappe sagte dem Mann herzlichen Dank und machte sich auf den Weg zur angegeben Haltestelle. Richtig, dem Fahrplan war zu entnehmen, dass die Linie Q an der Ecke Kniprode/ Elbinger Straße einsetzte und über die Invalidenstraße Alt-Moabit erreichte. Dann ging es weiter über Gotzkowskybrücke, die Franklin- und die Marchstraße zum Knie. Die Bahn kam auch bald, und als Kappe beim Bezahlen den Schaffner fragte, wie weit er fahren müsse, um möglichst dicht an die Charlottenburger Schloßstraße heranzukommen, wurde ihm geraten, bis zur Ecke Wilmersdorfer / Scharrenstraße zu fahren. «Die jeh’n Se dann lang - und schon sind Se da.»
Kappe folgte der Empfehlung und kam auf schnellstem Wege zum Ziel, glücklich darüber, der höllischen U-Bahn entgangen zu sein. Die Schloßstraße führte von der Bismarckstraße hinauf zum Spandauer Damm, also zum Eingang des Charlottenburger Schlosses, und war eine recht feudale Wohngegend. Kappe staunte. So etwas gab es in Berlin innerhalb der Ringbahn nicht eben häufig. Gottfried Kockanz schien also mit seinem Kohlenhandel nicht schlecht verdient zu haben. Auf dem Stadtplan im Bureau hatte Kappe gesehen, dass Kockanz auf der westlichen Seite der Schloßstraße zwischen der Potsdamer Straße und der Neuen Christstraße wohnen musste.
Als er auf der Mittelpromenade der Schloßstraße angekommen war, fiel sein Blick auf eine unbesetzte Parkbank, und er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig zu rasten. Er hatte Kockanz’ Haus im Auge, und wenn der es wirklich verlassen sollte, konnte er schnell aufspringen und ihn ansprechen.
Kappe wurde immer schläfriger. Das war wieder seine geheimnisvolle Krankheit, die dafür sorgte, dass bei ihm manchmal ganz plötzlich die Luft raus war. Er dachte daran, wie er oft an seinen Seen gesessen und auf die weite Fläche hinausgeblickt hatte, erst auf den Scharmützel-, dann den Storkower See. Er dachte an Klara. Was machte sie in dieser Sekunde gerade? Wahrscheinlich bei Rudolph Hertzog stehen und auf die nächste Kundin warten. Er stellte sich vor, wie er sich ihr von hinten näherte und ihr die Hände vor die Augen legte. «Wer bin ich?» Sie würde herumfahren, einen kleinen Freudenschrei ausstoßen und ihn dann küssen.
Er musste kurz eingenickt sein. Als vor ihm ein Automobil hupte, schreckte er hoch und wusste für Sekunden nicht genau, wo er war und was er hier sollte. Mit Kockanz reden, klar! Langsam erhob er sich und machte andeutungsweise einige kleinere gymnastische Übungen, um wieder in Schwung zu kommen. Noch immer aber war er wie in Trance.
Plötzlich war er hellwach, denn als er die westliche Fahrbahn der Schloßstraße überqueren wollte, kam ihm der Mann entgegen, den er noch intensiver suchte als den Mörder vom Kohlenplatz: der Mann, der ihm in Storkow eine Kugel in die Brust gejagt hatte.
«Hallo, Sie! Moment mal!»
Er wollte den Verbrecher am Ärmel festhalten, doch der war geistesgegenwärtig genug, sich loszureißen und in Richtung Kaiserdamm und Bismarckstraße davonzulaufen. Er musste sein Opfer erkannt haben, und dass er die Flucht ergriff, war Kappe Beweis genug, dass er den Richtigen vor sich hatte. Ohne sich zu besinnen, folgte er ihm, und da er ein ausgezeichneter Läufer war, zweifelte er nicht daran, ihn bald eingeholt zu haben. Doch der Verbrecher legte eine Ausdauer an den Tag, die nicht zu erwarten gewesen war, und Kappe hatte, als sie die Knobelsdorffstraße erreichten, bestenfalls sieben von etwa fünfzehn Metern aufgeholt.
Der Verbrecher musste aber gemerkt haben, dass sein Vorsprung immer geringer wurde und sein Verfolger ihn irgendwann auf dem Kaiserdamm packen würde, denn er sprang kurz entschlossen die Stufen zum U-Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz hinunter. Kappe zögerte einen Augenblick. Seine instinktive Angst vor der U-Bahn, vor
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