Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
dem Tunnel. .. Aber er überwand sich. Gerade war ein Zug eingelaufen, und eine erhebliche Anzahl von Fahrgästen strebte dem Ausgang entgegen. Gegen sie prallten nun Verfolgter wie Verfolger gleichermaßen. Kappe holte das Letzte aus sich heraus, denn er wusste, dass er verloren hatte, wenn es dem anderen gelang, in den anfahrenden Zug zu springen. Blieb er auf dem Bahnsteig zurück, würde er seinen Mörder vielleicht nie wieder zu Gesicht bekommen.
«Zurückbleiben!», schrie der Stationsvorsteher und hob die Kelle. Der Zugbegleiter klopfte gegen die Scheibe des Führerstandes. Das war das Zeichen für den Fahrer, die Motoren heraufzuschalten.
Da erreichte der Verbrecher die letzte Tür des letzten Wagens. Sie war schon geschlossen, aber da es noch keine Automatik gab, konnte er sie wieder aufreißen und in den Waggon springen. Blitzschnell fuhr er nun herum und umschloss den schweren Messinggriff der Tür, um sie wieder zu schließen und es seinem Verfolger unmöglich zu machen, auch noch zuzusteigen. Doch Kappe schaffte es, seinen rechten Fuß zwischen Tür und Rahmen zu bringen und den Griff außen zu packen.
In seiner Not wagte der Verbrecher nun das Äußerste. Er lief zur anderen Seite des Wagens, um die dortige Tür aufzureißen und auf die Gleise zu springen. Der Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz verfügte über zwei Seitenbahnsteige, die beiden Gleise lagen also dicht nebeneinander, nur durch einen Betonsockel mit Stützsäulen getrennt. Neben diesem Sockel verliefen die Stromschienen. Auf ihrer blanken Oberseite rutschten die Stromabnehmer der Züge entlang, und wer mit ihren 750 Volt in Berührung kam, war zumeist auf der Stelle tot.
Der Verbrecher sprang dennoch, flog über Sockel und Stromschiene hinweg und landete auf dem Gegengleis. Jetzt hatte er die Wahl, sich auf den südlichen Seitenbahnsteig zu schwingen oder in den Tunnel zu flüchten. Viel Zeit hatte er nicht, denn rechts von ihm im Tunnel waren schon die Lichter eines herannahenden Zuges zu erkennen. Er entschied sich für den Bahnsteig.
Kappes Organismus kannte nur noch ein Ziel: den Mann zu fangen. Es war der Urinstinkt des Raubtiers. Hatte es die Beute so dicht vor Augen, war alles andere ausgeblendet. Und so sprang er dem Verbrecher hinterher. Doch in der Hundertstelsekunde, als er in die Höhe schnellte, aber noch keine Weite gewonnen hatte, merkte er, dass der Zug in Richtung Warschauer Brücke gerade mit zischender Bremsluft in den Bahnhof einfuhr und ihn unweigerlich erfassen würde, wenn er auf den Gleisen landete. Verzweifelt ruderte er also mit den Armen in der Luft herum, nach einem Halt suchend. Und irgendwie erwischte er mit der rechten Hand noch den Türrahmen. Das führte dazu, dass er herumgewirbelt wurde und mit dem Rücken voran aus dem Wagen stürzte. Er hatte nur noch eine Chance zu überleben: Es musste ihm gelingen, sich mit den Fingern an einer der Säulen zwischen den Gleisen festzuklammern. Das war einerseits eine artistische Glanzleistung, und er war schon immer ein schlechter Turner gewesen, schien aber andererseits nicht völlig unmöglich, denn die Säulen waren an sich T-Träger, die man nur mit Nieten und einigen Ornamenten künstlerisch aufgewertet hatte. «Hilf mir, Herr!»
Und Kappe schaffte es in der Tat, auf dem schmalen Betonsockel zwischen den beiden Zügen und den tödlichen Stromschienen ausreichend Halt zu finden. Doch bis der Strom ausgeschaltet war und das Personal ihn geborgen hatte, war der Verbrecher schon längst über alle Berge.
Immerhin war er dem Tod zum dritten Mal von der Schippe gesprungen. Wenn das kein Grund zum Feiern war! Nachdem alle Protokolle geschrieben waren, eilte er in das erstbeste Restaurant und bestellte sich ein sündhaft teures Kalbsmedaillon.
Die dritte Nacht stand ins Haus. Die Sicherheitsbehörden beeilten sich, das Aufflackern neuer Unruhen durch geeignete Maßnahmen im Keime zu ersticken. So wurde nach einer Vereinbarung zwischen der Berliner und der Charlottenburger Schutzmannschaft die Polizeistunde für die Restaurants im Moabiter und dem angrenzenden Charlottenburger Aufruhrgebiet auf 17 Uhr festgesetzt. Ferner wurde in den Kasernen des 4. Garde-Regiments und des Elisabeth-Regiments, die dem bedrohten Gebiet am nächsten lagen, «kriegsstarke» Kompanien in ständige Bereitschaft versetzt, um auf Ersuchen der Polizei sofort ausrücken zu können. Die Polizisten erhielten teilweise Pistolen, die wirkungsvoller waren als die herkömmlichen Brownings, und die
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