Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
schließen.»
«Haben Sie Kockanz mal gefragt, ob er diese Fackeln nicht möglicherweise bei sich gelagert hatte?», fragte Kappe.
«Nein.» Dr. Kniehase sah ihn an. «Aber Sie können das mal für mich erledigen und sich bei ihm danach erkundigen.»
«Gerne, wenn ich ohnehin schon in Moabit bin.»
Am Morgen bot die Rostocker Straße ein Bild der Verwüstung. Wer sie betrat, lief auf Schritt und Tritt Gefahr, durch die aufgehäuften Scherben von Flaschen und Geschirren aller Art, durch auf dem Boden liegende Steine und Eisenstücke verletzt zu werden. An zahlreichen Häusern bemerkte man zerbrochene Fensterscheiben. Hier waren die Kugeln der Schutzleute eingeschlagen. Die Balkone wiesen starke Beschädigungen auf, was teils auf die Schüsse der Polizisten zurückzuführen war, teils daran lag, dass die Mieter Stuck und Eisenverzierungen abgebrochen hatten, um sie als Wurfgeschosse zu benutzen. Alle Laternen waren eingeschlagen, die eisernen Stangen arg demoliert und vielfach abgerissen worden.
Friedlich lagen die Straßenzüge im morgendlichen Dunst, aber niemand wusste so recht, ob es die Ruhe nach oder vor dem Sturm war. Jedenfalls wurden die geschwächten Polizeimannschaften durch neue abgelöst. Die Offiziere dagegen ließ man wegen ihrer gesammelten Erfahrungen möglichst im Dienst.
Den ersten Menschenauflauf gab es, als zwei Kutscher der Firma Kupfer & Co. die Arbeit niederlegten, nachdem sie mit ihren Fuhrwerken die Kohlen zur öffentlichen Waage gebracht hatten, um sie wiegen zu lassen. Es dauerte geraume Zeit, bis Ersatz zur Stelle war. Die Wagen wurden dann unter Polizeiaufsicht zur Chausseestraße gefahren.
Die nächste Aufregung ließ nicht lange auf sich warten, denn in einem Buttergeschäft in der Rostocker Straße drohten die Kunden, die Einrichtung zu demolieren, wenn man mit den Preisen nicht runterging. Das Personal weigerte sich, den Verkauf fortzusetzen.
Dem Kaiser war über die Moabiter Ausschreitungen inzwischen ein ausführlicher Bericht erstattet worden, in dem die Polizeiführung meinte, dass aus den Vorgängen ein gewisses planmäßiges Vorgehen von zielgerichteten Leuten zu erkennen sei. Die Verabredungen würden wahrscheinlich in einem Restaurant in der Rostocker Straße getroffen, in dem viele Anarchisten und ein Teil der organisierten Metallarbeiter verkehren würden. Man zählte ganz genau nach und stellte fest, dass aus den Brownings der Beamten 163 Schüsse abgegeben worden waren. Die Aufrührer hätten aber das Fünffache an Munition verschossen. «Es ist eine bitterernste Sache», erklärte ein Polizeisprecher, «es ist eine kleine Revolution. Wer sich gegen die Gesetze vergeht, riskiert sein Leben. An die Proklamation des Belagerungszustandes wird nicht gedacht. Es liegt auch noch keine Veranlassung vor, Militär heranzuziehen.»
Kappe fühlte das Wehen, welches sein geistiger Ziehvater, der Major von Vielitz in Storkow, immer den hehren Atem der Geschichte nannte. Dabei zu sein war schon etwas sehr Schönes, es sei denn, man bekam einen Blumentopf auf den Kopf geworfen - und das ohne Helm. Für die Fahrt mit der Stadtbahn vom Alexanderplatz zum Bahnhof Bellevue kaufte Kappe sich die Morgenausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers . Was er da über die Moabiter Unruhen las, war wenig erfreulich und ließ weitere Kampfhandlungen befürchten:
Gescheiterte Einigungsbestrebungen. - Der Transportarbeiterverband hat der Firma Kupfer & Co. mitgeteilt, dass er zu Verhandlungen geneigt sei. Der Kohlenhändlerverband beschloss dagegen gestern Nachmittag in einer Sitzung, mit dem Transportarbeiterverband nicht zu verhandeln und auch den vom Streik betroffenen Firmen dringend zu empfehlen, Verhandlungen mit dem Transportarbeiterverband abzulehnen. Der Arbeitgeberverband und auch die vom Streik betroffenen Firmen sind dagegen wohl bereit, mit den streikenden Arbeitern selbst zu verhandeln, auch durch den Magistratsrat von Schulz, mit dem sie sich in Verbindung gesetzt haben. Die Arbeitgeber sind auch bereit, vom 1. April an eine Lohnerhöhung eintreten zu lassen. Den vom Streik betroffenen Geschäften hat der Kohlenhändlerverband in der gestrigen Sitzung seine Unterstützung zugesagt.
Die Leute ringsum schienen allerdings diesem Thema kein allzu großes Interesse zu widmen - anderes war ihnen wichtiger. Das Fleisch sollte teurer werden. Im Freibad Wannsee war Saisonschluss. Die Schulen hatten das Schiller-Theater gedrängt, in seiner Dependance im früheren Wallner-Theater Wallensteins
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