Es geschah in Berlin 1910 Kappe und die verkohlte Leiche (German Edition)
Tod und im Haupthaus in Charlottenburg Die Braut von Messina zu spielen. Prinz Heinrich von Preußen weilte in Begleitung des Fürsten Münster in England bei Lord Newton. Admiral von Tirpitz hatte sich zum Vortrag beim Kaiser nach Rominten begeben.
Fast automatisch stieg Hermann Kappe am Bahnhof Bellevue aus dem Stadtbahnzug, denn mit dieser Station assoziierte er den Stadtteil Moabit - und um den und die verkohlte Leiche auf dem Kohlenplatz in der Wiclefstraße kreiste in den letzten Tagen all sein Denken. Er hatte sich derart auf die Suche nach dem Mörder Paul Tilkowskis konzentriert, dass er Klara Göritz fast vergessen hatte. Dabei waren gerade einmal zwei volle Tage vergangen, seitdem sie sich auf der Rückfahrt von Storkow selig an ihn geschmiegt hatte. Doch wie heißt es so schön? Aus den Augen - aus dem Sinn. Es war auch schwer, ständig in Kontakt zu bleiben, denn beide hatten keine Gelegenheit, privat miteinander zu telefonieren, und bei der Arbeit beziehungsweise im Dienst wagten sie es nicht. Außerdem hatte Kappe die Abende und Nächte auf den Moabiter Straßen und im dortigen Krankenhaus verbracht, während Klara jeden Tag so viel und so lange zu arbeiten hatte, dass sie zu Hause nur noch halbtot ins Bett fallen konnte. Immerhin hatte er ihr gestern heimlich im Dienst einen Brief geschrieben. Mal sehen, ob und wann sie antwortete.
Auf dem Weg vom Bahnhof zur Wiclefstraße staunte Kappe, wie sehr man das Chaos schon wieder beseitigt hatte. Einem Besucher aus einer fremden Stadt wäre nie in den Sinn gekommen, dass es hier in den letzten beiden Nächten heftige Ausschreitungen gegeben hatte.
Bis 13 Uhr waren die Kohlenwagen der Firma Kupfer & Co. von ihrer ersten Ausfahrt zum Kohlenhof in der Sickingenstraße zurückgekehrt, ohne aufgehalten worden zu sein. Die Arbeiter von Ludwig Loewe und den anderen Fabriken gingen in der Mittagspause ruhig nach Hause oder in die angrenzenden Kneipen. Etliche hatten verbundene Köpfe. Fehlte jemand, so war nicht immer klar, ob er schwerer verletzt oder verhaftet worden war und einer Verurteilung wegen Landfriedensbruchs entgegensehen musste. Unruhe kam auf, als bekannt wurde, dass die Staatsanwaltschaft Beamte in die Unfallstation Erasmusstraße entsandt hatte, um Einsicht in die Bücher zu nehmen und die Aufrührer zu ermitteln, die gestern Nacht Hilfe in Anspruch genommen hatten. Unter Berufung auf das ärztliche Berufsgeheimnis wurde ihrem Wunsch aber nicht entsprochen. Dann aber wurden die Bücher auf Weisung des Oberstaatsanwalts am Landgericht Berlin I beschlagnahmt. Trotzdem blieb es auf den Straßen ruhig, lediglich ein paar Dutzend Arbeiterinnen formierten sich zu einem Demonstrationszug, beließen es aber dabei, den Schutzleuten mit ihrem Mundwerk Zunder zu geben.
Kappe kam ohne besondere Zwischenfälle zum Kohlenplatz in der Wiclefstraße, erfuhr aber von den dort beschäftigten Arbeitern, dass Gottfried Kockanz über Mittag nach Hause gefahren sei, um mit einem Makler zu verhandeln. Er habe die Absicht, sich oben in Frohnau ein Grundstück zu kaufen.
Kappe bedankte sich und überlegte, wie er von der Wiclefam besten zur Charlottenburger Schloßstraße gelangen konnte. So lange lebte er nun auch noch nicht in der Hauptstadt, dass er sich so gut auskannte wie ein alter Droschkenkutscher. Jetzt wäre es ganz gut gewesen, auf Galgenbergs Ortskenntnis zurückgreifen zu können, aber der befand sich wohl noch immer beim Zahnklempner, wie er die Dentisten nannte. Er kam zum Schluss, dass es wohl am besten sei, wenn er mit der Eisenbahn vom Bahnhof Beusselstraße nach Witzleben fuhr, von dort zum Kaiserdamm lief und dann die U-Bahn bis zum Sophie-Charlotte-Platz nahm. Seit zwei Jahren endete die am Reichskanzlerplatz. Aber er fuhr nicht gern mit der Hoch- und der U-Bahn. Mal litt er unter einer gewissen Höhenangst, mal unter der Vorstufe einer Tunnelphobie. Das musste er natürlich von Canow und den Kollegen verschweigen, denn sonst wäre es mit seiner Laufbahn als Kriminaler bald zu Ende gewesen.
«Sie verfolgen einen Mörder, Kappe, und was machen Sie, wenn der zur Hochbahn hinaufläuft und in den gerade eingefahrenen Zug springt?» - «Ich lasse ihn fahren.» Das war einer seiner Albträume.
Die Frage war also, ob er von A nach B auch mit der Straßenbahn gelangen konnte. Das sicher - aber mit welcher? An der Ecke Beussel/ Wittstocker Straße fragte er einen Mann, der gerade dabei war, Plakate an eine Litfaßsäule zu kleben.
«Weeß ick doch nicht -
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