Es klopft
wisse aber, wandte Julia ein, dass ihm jederzeit ein ähnlicher Unfall widerfahren könne, oder sogar ein schlimmerer.
Rein statistisch, fand Manuel, müsste er jetzt eine Weile Ruhe haben.
»Du weißt, was ich von Statistiken halte«, sagte Julia.
»Ohne Statistiken käme die Forschung nicht weiter«, entgegnete Manuel.
Julia verzichtete darauf, eine abschätzige Bemerkung über die Forschung zu machen. Hatte ein Gespräch einen solchen Punkt erreicht, das wusste sie, dann war es besser, es abzubrechen.
Jetzt saß sie im Lehrerzimmer der Kantonsschule Wetzikon und trank einen Kaffee. Sie hatte eine Zwischenstunde. Nach der Italienischlektion mit einer Maturaklasse stand noch eine Spanischstunde bevor. Spanisch war kein obligatorisches Fach, man nahm es freiwillig, und deshalb waren die meisten, die kamen, interessiert. Es war eine erste Klasse, und sie wollte heute ein paar Grundregeln der Lautverschiebungen vom Lateinischen zum Spanischen durchnehmen und hatte zu diesem Zweck die Übersicht vor sich, die sie sich einmal im Studium gemacht hatte. Doch es fiel ihr schwer, sich auf die Reihen »hortus, huerto« »fortis, fuerte« »mortis, muerte« zu konzentrieren.
Manuel. Sie fragte sich, ob sie ihn überhaupt kenne. Es war das erstemal, dass ihn ein Ereignis so sichtbar verstörte. Bisher war er mit einer Gewissheit und Leichtigkeit seinen Weg gegangen, um die sie ihn manchmal beneidet hatte. Als sie sich kennen lernten, stand er kurz vor dem Staatsexamen, auf das er sich zwar intensiv, aber ohne jene schleichende Furcht
vorbereitete, die sie von Studienkolleginnen und -kollegen und auch von sich selber kannte, die Furcht, man habe sich auf genau das nicht genügend vorbereitet, was in der Prüfung gefragt werden würde, und die einen dazu trieb, sich nächtens sinnlose Zusammenfassungen von Fachliteratur einzuhämmern, um mindestens eine Ahnung von dem vorzuspiegeln, worüber man nichts wusste.
Auch seine Dissertation hatte er geschrieben, ohne ihre Hilfe bei der Reinschrift in Anspruch zu nehmen, seine verschiedenen Stellen als Notfall- und Assistenzarzt waren alle an der Grenze des Zumutbaren gewesen, und stets hatte er sie mit Unerschrockenheit angepackt, er schien über einen gewissen Grundvorrat an Optimismus zu verfügen, der ihr fehlte.
»Gut, dann machen wir das!« war einer seiner Lieblingssätze, mit dem er zum Beispiel auch die Übernahme der Praxis oder die Miete ihres Hauses besiegelt hatte. Beides war mit Ungewissheiten belastet, über die sie noch lange gegrübelt hätte, aber irgendwie war er imstande, Fragezeichen in Ausrufezeichen zu verwandeln.
Trotzdem gehörte er nicht zu den Menschen, die ihre gute Laune ständig zur Schau trugen wie etwa ihr Kollege Imbach, der Englisch unterrichtete. Wenn er das Lehrerzimmer betrat, hatte Julia immer das Gefühl, sie müsse sich vor seiner Fröhlichkeit schützen wie vor einer ansteckenden Krankheit.
Als sie Manuel kennen gelernt hatte, auf jenem Fest seines Bruders, hatte sie der schlaksige, große Medizinstudent, dem seine gescheitelten Haare immer wieder in die Stirn fielen, eigenartig angezogen, seine etwas linkische Art, auch seine
leise Ironie, die nicht menschenverachtend war, gefielen ihr, und in den Tagen danach musste sie so oft an ihn denken, bis sie ihre Freundin bat, bei Manuels Bruder nach dessen Adresse zu fragen. An Manuels ersten Anruf erinnerte sie sich genau: sie war neben dem Telefon gestanden und hatte die Wahl seiner Nummer mittendrin abgebrochen und den Hörer wieder aufgelegt - da klingelte es.
Eigentlich wollte sie damals von Männern gar nichts mehr wissen. Ihre Freundschaft mit Giuliano war abrupt beendet worden, von ihm, nicht von ihr. Den kurzen Brief sah sie jetzt noch vor sich, und noch beleidigten sie die wenigen Wörter, »Scusa, ti voglio bene, però non ne posso più, Giuliano.« Also gern haben und trotzdem nicht mehr können. Kein Wort darüber, wieso. Kein Gespräch, kein abschließendes Treffen mehr. Es sei nicht wegen ihr, und es gebe keinen Grund, sagte er ihr am Telefon.
Den Grund sah sie ein paar Wochen später. Als sie aus dem »Café Select« trat, schlenderte Giuliano am Arm einer schönen, schlanken Frau mit blondem Rossschwanz zum Eingang des Restaurants »Terrasse«.
Ihre Eltern waren erleichtert gewesen damals. Sie hatten befürchtet, dass aus der Freundschaft mit dem Studenten der Nationalökonomie eine dauerhafte Verbindung werden könnte, die nicht dem entsprochen hätte, was sie sich für
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