Es klopft
nicht ausblenden durfte.
Im Basler Telefonbuch hatte er keine Eva Wolf gefunden; er hatte schon erwogen, sich bei der Tagungsleitung nach der Dolmetscherin zu erkundigen, hatte es aber wieder verworfen, da ihm kein unverdächtiger Vorwand in den Sinn kam. Es blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten, bis sich Eva wieder melden würde.
Als der Anruf kam, war er gerade dabei, dem letzten Patienten des Tages einen Propf aus dem Ohr zu spülen. Er tat dies mit der Klistierspritze, deren konzentrierter Wasserstrahl mit großem Druck durch die Kanüle ausgestoßen wurde und gewöhnlich das verkrustete Ohrenschmalz beim ersten Mal schon löste. Dabei bat er den Patienten, die Nierenschale
zum Auffangen des Wassers und des Gehörganginhalts selbst unter das Ohr zu halten.
»Moment, bitte«, sagte er, als das Telefon nicht aufhörte zu klingeln, und ging, die leere Spritze in der rechten Hand, zum Pult.
»Ist es dringend?« fragte er Frau Riesen, als er den Hörer abnahm.
»Ja«, sagte diese, »eine Frau Wolf.«
Manuel drückte auf die Null-Taste und meldete sich mit »Ja?«
»Ich bin’s, Eva.«
»Sagen Sie, kann ich Sie zurückrufen? Ich bin am Behandeln.«
»Nicht nötig, ich wollte Ihnen nur sagen, es hat geklappt.«
»Aber -«
»Keine Angst. Ich verabschiede mich aus Ihrem Leben. Sie werden nichts mehr von mir hören. Und ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Die Spritze fiel zu Boden und rollte etwas vom Pult weg. Manuel machte zwei Schritte und bückte sich mit dem Hörer in der Hand nach ihr, der Telefonapparat kippte über die Tischkante und fiel ebenfalls hinunter, und aus der Muschel ertönte das Besetztzeichen.
Manuel erhob sich und schaute seinen Patienten an, einen Lokomotivführer, der immer noch die Schüssel mit dem Ausgespülten unter sein Ohr presste und ihn verwundert anblickte.
»Kann ich das wegnehmen?« fragte er.
»Ja natürlich«, sagte Manuel, »entschuldigen Sie.«
Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, las das Telefon auf und stellte es auf das Pult. Dann drückte er die Eins und fragte seine Praxishilfe, ob Frau Wolf noch dran sei. Sie war nicht mehr dran.
»Wenn sie nochmals anruft, stellen Sie sie durch, bitte.«
Sie rief nicht mehr an.
Manuel hob die Spritze vom Boden auf und legte sie auf den Instrumententisch.
Der Lokomotivführer hatte die Schüssel vor sich auf den Knien und starrte auf die schwimmenden Schmutzreste, die ihm das Gehör verstopft hatten.
»Muss ich etwa die Ohren besser putzen?« fragte er.
»Nein, Herr Rebsamen, Ihr Gehörgang ist einfach ein bißchen gewunden«, hörte Manuel Herrn Dr. Ritter sagen. Dann sah er zu, wie Dr. Ritter dem Patienten nochmals den Trichter ans Ohr setzte, hindurchschaute und ihn fragte, ob er jetzt besser höre, und ihn ermahnte, wieder zu kommen, wenn er merke, dass sich erneut ein Propf bilde. Er stand auch dabei, als sich der Ohrenarzt mit seiner lächelnden Praxishilfe kurz wegen eines Berichts für die Invalidenversicherung und wegen des morgigen Tages besprach und sie dann in den Abend entließ.
Dann fand er sich am Pult sitzend, das Kinn auf die Hände gestützt. Er starrte auf die Reproduktion des Genferseebildes von Hodler, das an der Wand hing. Hinter dem See erhob sich der Montblanc aus den Wolken.
Ein leises Geräusch gleich vor ihm, auf dem Tisch, und noch eins. Etwas war auf den Patientenbericht gefallen. Er blickte auf das gelbe Papier und sah die zwei Tropfen.
Er nahm sein Taschentuch hervor und trocknete sich die Augen.
Hatte er je geweint, als Erwachsener?
Doch, damals, als Majas Hochzeitsanzeige kam.
Und nun wieder wegen einer Frau. Er zweifelte nicht daran, dass er sie nie mehr sehen würde. Diese Frau wusste zu genau, was sie wollte, und ging keine Kompromisse ein.
Er hingegen merkte nun, dass er sie unglaublich gern wiedergesehen hätte, und er vermochte nicht zu sagen, warum.
Er starrte auf die Liege hinüber, die er das letzte Mal benutzt hatte, als es einer Patientin schlecht geworden war. Wie seltsam, dass hier etwas derartig Leidenschaftliches passiert war. Und wie schrecklich, dass es derartige Folgen hatte. Er würde Vater eines Kindes, das er nie zu Gesicht bekäme und dessen unbekannte Halbgeschwister Thomas und Mirjam wären.
Und jetzt? Eva suchen? Für einen Privatdetektiv wäre das bestimmt ein Leichtes. Aber dann? Sie zur Rede stellen? Und weswegen? War er nicht einverstanden gewesen? Also das mit ihr fortsetzen, was er angefangen hatte? Da war etwas, das verlangte nach
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