Es muss nicht immer Mord sein
schuldig dafür, so oberflächlich gewesen zu sein. In der kurzen Zeit,
die ich sie gekannt hatte, war Liz immer freundlich gewesen, und von ihrem
Geschmack bei Grußkarten einmal abgesehen, schien sie ein netter Mensch zu
sein. Nun, da ich wußte, daß sie die geheimnisvolle Anruferin gewesen war,
hatte ich keine Angst mehr. Im Lauf der Zeit fragte ich mich, wie ich jemals
welche hatte haben können.
Ich bekam das Bild nicht aus dem Kopf, wie sie
schluchzend vor dem Schaufenster des Rahmengeschäfts gestanden hatte. Ich rief
ihre Mutter an und fragte, ob ich mit ihr sprechen könne. Sie sagte mir, Liz
sei noch immer im Krankenhaus. Es gehe ihr ganz hervorragend, sagte sie. Und
nein, sie wolle keinen Besuch. Sie knallte den Hörer mit ihrer gewohnten
Höflichkeit auf die Gabel.
Es schien nicht fair. Liz hatte eigentlich
nichts Böses getan. Ich verabscheute die Vorstellung, daß sie auf einer
psychiatrischen Station eingesperrt war, oder — noch schlimmer — zu Hause bei
ihrer herrschsüchtigen Mutter. Eines Abends, auf dem Weg zur Geburtstagssause
eines Freundes, der dreißig geworden war, fand ich mich ziemlich in der Nähe
des Krankenhauses wieder, also schaute ich vorbei.
Ich glaube, sie hatte nicht viele Freunde, oder
aber man hatte ihnen nicht gesagt, wo Liz zu finden war. Die Ärzte hatten ihrer
Mutter geraten, sie eine Zeitlang nicht zu besuchen, also war sie vermutlich
ziemlich einsam. Die ersten paar Male, die ich sie besuchen kam, redeten wir
über Trivialitäten. Ich beschrieb ihr meinen Tag in der Bank oder spielte ihr
eine kurze Szene meiner neuesten Bühnenfigur vor (ich hatte Suzy Seltsam
fallengelassen und nannte mich nun einfach Sophie Fitt). Sie erzählte mir von
einem Buch, das sie gerade las. Sie las eine Menge. Nach und nach bauten wir
eine Art Vertrauen auf. Als sie erst einmal spürte, daß ich ihr dafür verziehen
hatte, mich unabsichtlich in Angst versetzt zu haben, begann sie, mir aus ihrem
Leben zu erzählen, und ich fing an, ihre Geschichte Stück für Stück
zusammenzusetzen.
Sie war mit vierzehn schwanger geworden. Sie war
so behütet und unschuldig gewesen, daß sie nicht einmal gewußt hatte, was sie
tat. Als die Schwangerschaft entdeckt wurde, stand sie praktisch unmittelbar
vor der Geburt. In diesen Tagen war so etwas noch ein Skandal. Die Swinging
Sixties hatten in ihrem Heimatstädtchen nicht viel Eindruck hinterlassen.
Elizabeth (sie war nach der neuen Königin benannt worden — diese Art von Leuten
waren ihre Eltern) wurde in ein Entbindungsheim verfrachtet und eine Adoption
in die Wege geleitet.
»Sie hat kaum Erinnerungen an diese Zeit, außer
daß ihr Baby ein Mädchen war und sie es Sophia nannte, nach Sophia Loren. Der
Vater des Kindes war Italiener. Er war der Sohn des Mannes, dem das örtliche
Eiswägelchen gehörte. Sie waren miteinander aufgewachsen und schon als Kinder
ineinander verliebt gewesen, aber dann scheint er ein bißchen schneller
erwachsen geworden zu sein als sie.
Liz ist sich nicht sicher, aber sie glaubt, daß
ihr Vater ihren Freund und dessen Familie aus der Stadt jagte, während sie in
der Klinik war. Auf jeden Fall hat sie ihn nie wiedergesehen.
Sie erinnert sich, wie man ihr das Baby nach ein
paar Wochen wegnahm. Sie war minderjährig, und die Angelegenheit wurde ihr im
wörtlichen Sinn aus der Hand genommen. Sie hat die Adoptiveltern nie
kennengelernt. Alles, woran sie sich erinnern kann, ist, daß ihre Mutter sagte,
für das Baby würde gut gesorgt werden, und dann noch irgend etwas über Ärzte in
Norwich... als hätte das Baby echt Glück, sich gesellschaftlich verbessert zu
haben.«
Ich schaute auf. Charlotte blickte gelassen
zurück, aber ihre Hände zitterten, als sie eine weitere Gauloise aus ihrem
blauen Päckchen klopfte. Ich griff nach dem Streichholzbriefchen und gab ihr
Feuer. Ich fand es wichtig weiterzureden.
»Sobald sie das Baby rechtsverbindlich
losgeworden waren, holten sie Liz zurück nach Hause, und das Leben sollte
normal weitergehen. Das Baby wurde nie erwähnt. Liz sagt, daß sie sich manchmal
gefragt hat, ob das alles überhaupt je geschehen sei. Ich glaube, daß diese
Vertuscherei die Wurzel aller Probleme ist, die Liz hat.«
Ich merkte allmählich, daß es Liz half, mit mir
zu reden; es versetzte sie in die Lage, einige der Erinnerungen freizusetzen,
die sie jahrelang unterdrückt hatte. Zu ihrer Behandlung gehörte eine tägliche
Sitzung mit einem Psychiater, aber sie sah ihn nur eine Stunde lang, und
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