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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wusste, dass er keine Freunde hatte. Aber es wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen, ihr das zu sagen, nicht in tausend Jahren.
    Sie holte etwas aus der Tasche ihres Hauskleides und reichte es ihm. Es war eine kleine Plastikschachtel. Ben öffnete sie und riss vor Staunen den Mund auf. »Wow!«, rief er, und seine Freude war nicht gespielt. »Danke!«
    Es war eine Timex-Uhr mit kleinen silbernen Ziffern und einem Kunstleder-Armband. Sie hatte die Uhr aufgezogen und gestellt; er hörte sie ticken.
    »Mannomann, die ist ja super!« Er umarmte und küsste sie enthusiastisch auf die Wange.
    Sie lächelte und freute sich über seine Begeisterung. Dann wurde sie wieder ernst. »Nimm sie, trag sie, zieh sie auf und verlier sie nicht.«
    »Okay.«
    »Nachdem du jetzt eine Uhr hast, gibt es für dich keinen plausiblen Grund mehr, zu spät nach Hause zu kommen. Denk daran, was ich dir gesagt habe, Ben: Sei pünktlich, sonst wird die Polizei nach dir suchen. Zumindest bis sie diesen Verbrecher schnappen, der hier in der Gegend Kinder umbringt, darfst du keine einzige Minute zu spät kommen, sonst rufe ich bei der Polizei an.«
    »Ja, Mama.«
    »Und noch etwas«, fuhr sie fort. »Ich möchte nicht, dass du allein herumläufst. Du weißt zwar, dass du von Fremden keine Süßigkeiten annehmen oder nicht zu ihnen ins Auto steigen darfst – du bist kein Dummkopf, da sind wir uns einig -, und du bist groß für dein Alter, aber ein erwachsener Mann, besonders ein Verrückter, kann ein Kind leicht überwältigen, wenn er es darauf anlegt. Wenn du in den Park oder in die Bücherei gehst – geh mit einem deiner Freunde.«
    »Ja, Mama.«
    Sie sah wieder aus dem Fenster und seufzte besorgt. »Die Welt muss wirklich in einem schlimmen Zustand sein, wenn solche Dinge passieren können. Und diese Stadt ist nicht gut, das wusste ich von Anfang an.« Jetzt sah sie ihn wieder an. »Du läufst doch so viel herum, Ben. Du musst so gut wie jedes Fleckchen in Derry kennen, stimmt’s? Zumindest die Innenstadt.«
    Ben wusste nicht, ob er alle Fleckchen kannte, aber er kannte eine ganze Menge. Außerdem war er so aufgeregt über das unerwartete Geschenk, dass er seiner Mutter auch zugestimmt hätte, wenn sie vorgeschlagen hätte, dass John Wayne in einem Musical über den Zweiten Weltkrieg Hitler spielen sollte. Er nickte.
    »Hast du nie etwas bemerkt?«, fragte sie. »Irgendetwas oder irgendjemand … na ja, Verdächtiges? Etwas Außergewöhnliches? Etwas, was dich beunruhigte oder dir Angst einjagte?«
    In seiner Freude über die Uhr, seiner Liebe zu seiner Mutter und seinem Glück über ihr Interesse an ihm (das aufgrund der unverhohlenen, ungenierten Heftigkeit zugleich ein wenig beängstigend war) hätte er ihr fast erzählt, was er im Januar erlebt hatte.
    Aber im letzten Moment beschloss er, doch lieber den Mund zu halten.
    Weshalb? Weil sogar Kinder manchmal intuitiv erfassen, dass es besser ist, aus Liebe zu schweigen, um dem geliebten Menschen Kummer und Sorgen zu ersparen? Ja, das war einer seiner Gründe, nichts von seinem unheimlichen Erlebnis zu verraten. Aber es gab auch andere, weniger edle Gründe. Sie konnte sehr streng sein. Sie konnte ein richtiger Boss sein. Sie bezeichnete ihn nie als dick, sondern nur als »groß«, immer nur als »groß« (manchmal abgewandelt in »groß für dein Alter«), und wenn vom Abendessen Reste übrig blieben, brachte sie sie ihm zum Fernseher oder zu dem Tisch, wo er seine Hausaufgaben machte, und er aß sie auf, und in seinem tiefsten Innern hasste er sich dafür (Ben Hanscom hätte nie gewagt, seine Mutter zu hassen; für solche hässlichen, undankbaren Gedanken würde Gott ihn mit einem Blitz erschlagen). Und ein noch diffuserer Teil von ihm erahnte ihre Motive bei dieser ständigen Mästerei. War es nur Liebe? Könnte es auch etwas anderes sein? Sicher nicht. Aber … er machte sich so seine Gedanken. Außerdem wusste sie nicht, dass er keine Freunde hatte. Dieser Mangel an Wissen machte, dass er ihr misstraute – er war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er ihr erzählte, was im Januar passiert war – vielleicht passiert war. Um sechs Uhr abends zu Hause sein zu müssen, war gar nicht so schlimm. Er konnte lesen, fernsehen
    (essen)
    mit seinen Legosteinen und dem Baukasten Sachen bauen. Aber den ganzen Tag im Haus bleiben zu müssen, wäre sehr schlimm … und wenn er ihr erzählen würde, was er im Januar gesehen hatte – oder glaubte, gesehen zu haben -,war es durchaus

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