Es: Roman
Freddy war schreiend nach Hause gerannt.
Veronica Grogan war in die vierte Klasse der Christlichen Tagesschule in der Neibolt Street gegangen, die von Leuten geleitet wurde, die Bens Mutter als »Baptisten« bezeichnete. Am Tage ihrer Beerdigung wäre Veronica zehn Jahre alt geworden.
Nach diesem jüngsten Schrecken hatte Arlene Hanscom Ben eines Abends ins Wohnzimmer mitgenommen und sich neben ihn aufs Sofa gesetzt, hatte seine Hände genommen und ihm starr ins Gesicht geblickt. Ben erwiderte den Blick, fühlte sich aber ein wenig unbehaglich dabei.
»Ben«, sagte sie nach einer Weile, »bist du ein Dummkopf?«
»Nein, Mama«, hatte Ben geantwortet. Ihm war jetzt noch etwas unbehaglicher zumute. Er hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie hinauswollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so ernst erlebt zu haben.
»Nein«, wiederholte sie nachdenklich. »Das glaube ich auch nicht.«
Dann schwieg sie lange und schaute aus dem Fenster in die Nacht hinaus, und Ben fragte sich, ob sie ihn vielleicht vergessen hatte. Sie war noch jung, erst zweiunddreißig, aber die Schwierigkeiten, allein für ihren Sohn sorgen zu müssen, waren ihr deutlich anzusehen. Sie arbeitete vierzig Stunden pro Woche in Starks Textilfabrik in Newport, und manchmal, wenn besonders viele winzige Textilfasern und Staub in der Halle herumgeschwirrt waren, hustete sie abends so lange und so stark, dass Ben Angst bekam. An diesen Abenden lag er lange wach, sah durch das Fenster neben seinem Bett in die Dunkelheit hinaus und dachte darüber nach, was wohl aus ihm werden würde, wenn sie starb. Er wäre dann eine Waise und würde vermutlich in staatliche Obhut kommen (Ben dachte, das hieße, dass man bei Farmern lebte und dort von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten müsste). Vielleicht steckte man ihn auch in das Waisenhaus in Bangor. Er versuchte sich einzureden, dass es Blödsinn war, sich solche Gedanken zu machen, aber das half nichts. Und er sorgte sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um seiner Mutter willen. Sie war eine strenge Frau, die darauf bestand, dass er ihr widerspruchslos gehorchte, aber sie war auch eine sehr gute Mutter, und er liebte sie sehr.
»Du weißt doch über diese Morde Bescheid«, sagte sie schließlich an jenem speziellen Abend.
Er nickte.
»Zuerst glauben die Leute, die Sache hätte …« Sie zögerte, denn sie hatte mit ihrem Sohn noch nie über dieses Thema gesprochen, aber die Umstände waren ungewöhnlich, und sie zwang sich weiterzureden, »… sexuelle Motive, und vielleicht stimmt das tatsächlich, vielleicht aber auch nicht. Niemand kann mehr irgendwas mit Sicherheit sagen, außer dass irgendein Verrückter frei herumläuft und kleine Kinder umbringt. Verstehst du mich, Ben?«
Er nickte wieder.
»Und du weißt, was ich meine, wenn ich sage, dass es vielleicht Sexualverbrechen waren?«
Er wusste es nicht – jedenfalls nicht genau -, aber er nickte wieder. Wenn seine Mutter der Meinung war, sie müsste jetzt nicht nur über diese Sache, sondern auch über die Bienen und Vögel mit ihm reden, würde er ganz sicher vor Verlegenheit sterben.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Ben. Ich mache mir Sorgen, dass ich dich vernachlässige.«
Ben wand sich, sagte aber nichts.
»Du bist oft allein. Zu oft, glaube ich. Du …«
»Mama …«
»Unterbrich mich nicht«, sagte sie, und Ben verstummte. »Du musst sehr vorsichtig sein, Benny. Es ist Sommer, und ich möchte dir die Ferien nicht verderben, aber du musst vorsichtig sein. Ich möchte, dass du jeden Abend zum Abendessen zu Hause bist. Wann essen wir zu Abend?«
»Um sechs.«
»Ganz genau. Also: Wenn ich den Tisch decke und deine Milch eingieße und feststelle, dass kein Ben auf seinem Stuhl sitzt oder sich gerade die Hände wäscht, werde ich die Polizei anrufen und dich als vermisst melden. Verstehst du das?«
»Ja, Mama.«
»Und du glaubst, dass es mein Ernst ist?«
»Ja.«
»Nun würde es sich später höchstwahrscheinlich als überflüssig erweisen, wenn ich das tun müsste. Ich weiß ein wenig Bescheid, was Jungs so alles treiben. Ich weiß, dass sie während der Sommerferien immer mit irgendwas beschäftigt sind – Bienen bis zu ihren Bienenstöcken zu verfolgen oder Ball zu spielen oder was auch immer. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, womit du und deine Freunde euch die Zeit vertreibt, weißt du, Ben.«
Ben nickte nachdenklich und dachte insgeheim, dass sie nicht sehr viel von ihm wissen konnte, wenn sie nicht einmal
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