Es: Roman
spielte, keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gab. Das fand er irgendwie cool.
Nach drei Kapiteln schaute er hoch, und sein Blick fiel auf ein neues Poster an der Wand, auf dem ein glücklicher Postbote einem glücklichen Kind einen Brief aushändigte. BÜCHEREIEN SIND AUCH ZUM SCHREIBEN DA, stand auf dem Plakat. WARUM NICHT GLEICH HEUTE EINEM FREUND SCHREIBEN? ER FREUT SICH GARANTIERT!
Unter dem Poster hingen unter Klarsichtfolie vorgestempelte Postkarten, vorgestempelte Briefumschläge und Briefbogen, auf denen oben eine Zeichnung der Bücherei abgebildet war. Die Umschläge kosteten fünf Cent, die Postkarten drei Cent, zwei Bogen Papier einen Cent.
Ben griff in die rechte Vordertasche seiner Jeans. Die letzten vier Cent des Flaschenpfandgeldes waren noch da. Er legte ein Lesezeichen in Hot Rod, ging zur Ausleihtheke, gab Mrs. Starrett drei Cent und sagte: »Könnte ich bitte eine Postkarte haben?«
»Aber ja, Ben.« Sie freute sich – wie immer – über seine ernste Höflichkeit und bedauerte gleichzeitig, dass der Junge so dick war. Ihre Mutter würde sagen, dass er langsamen Selbstmord mit Messer und Gabel beging. Sie gab ihm eine Karte und beobachtete, wie er an seinen Platz zurückging. Der Tisch war groß genug für sechs Kinder, aber er saß dort ganz allein. Sie hatte Ben Hanscom noch nie mit irgendeinem anderen Jungen gesehen. Das war jammerschade, denn sie war überzeugt davon, dass Ben große innere Reichtümer besaß. Er würde sie einem freundlichen, geduldigen Menschen offenbaren … wenn er jemals auf einen solchen Freund stoßen sollte.
8
Ben holte seinen Kugelschreiber heraus und adressierte die Karte an: Miss Beverly Marsh, Lower Main Street, Derry, Maine, 2. Bezirk. Er kannte ihre Hausnummer nicht, aber seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, dass der Postbote die meisten Namen in seinem Bezirk kannte. Wenn der Postbote die Karte zustellen könnte, so wäre das toll. Andernfalls würde sie einfach im Büro für unzustellbare Briefe landen, denn seinen Absender würde er natürlich nicht angeben.
Die Karte so in der Hand haltend, dass die Adresse nicht zu sehen war (er wollte kein Risiko eingehen, obwohl er bisher kein bekanntes Gesicht in der Bücherei erspäht hatte), holte er sich einige Zettel aus der kleinen Schublade neben den Katalogkästen. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück und begann etwas auf die Zettel zu kritzeln, auszustreichen, neu zu schreiben.
In der letzten Schulwoche hatten sie im Englischunterricht Haikus gelesen. Das war eine japanische Dichtkunst, kurz und straff. Ein Haiku, so hatte Mrs. Douglas erklärt, musste aus genau siebzehn Silben bestehen – nicht mehr und nicht weniger. Es konzentrierte sich meistens auf ein klares Bild, das irgendeine Emotion ausdrückte: Trauer, Freude, Nostalgie, Glück … oder Liebe.
Dieses Konzept faszinierte Ben und regte seine Fantasie an, obwohl er dem Englischunterricht im Allgemeinen ein eher sachliches Interesse entgegenbrachte. Das Haiku weckte in ihm ein Glücksgefühl wie Mrs. Starretts Erklärung des Gewächshauseffekts. Haiku war gute Poesie, denn es war strukturierte Poesie. Es gab keine geheimnisvollen Regeln. Siebzehn Silben, und das Problem war gelöst. Ein mit irgendeiner Emotion verknüpftes Bild. Klar, ordentlich, auf das Wichtigste reduziert, in sich geschlossen. Ihm gefiel sogar der Name: Haiku.
Ihre Haare, fiel ihm plötzlich ein, und er sah sie deutlich vor sich: Die Sonne verfing sich darin wie in einem Feuernetz, und es wippte um ihre Schultern, als sie die Treppe hinunterlief.
Zwanzig Minuten lang arbeitete er konzentriert (mit einer kurzen Unterbrechung, um neue Zettel zu holen), strich Wörter aus, die zu lang waren, änderte und brachte schließlich folgendes Haiku zustande:
Dein Haar ist Winterfeuer,
Glut im Januar.
Dort brennt auch mein Herz.
Er war von seinem Werk nicht sehr angetan, aber etwas Besseres gelang ihm nicht. Er befürchtete, dass er nervös werden und die ganze Sache aufgeben würde, wenn er zu lange daran herumarbeitete. Und das wollte er nicht. Dass sie ihn angesprochen hatte, war für Ben etwas Überwältigendes gewesen, ein Augenblick, den er nie vergessen würde. Es war für ihn ein denkwürdiger Tag. Vielleicht schwärmte Beverly für irgendeinen älteren Jungen – einen Sechst- oder sogar Siebtklässler; und sie würde vielleicht glauben, dass dieser Junge ihr das Haiku geschickt hatte, sie würde glücklich sein, und dadurch würde auch ihr dieser Tag unvergesslich
Weitere Kostenlose Bücher