Es: Roman
einer wildfremden Person zu erklären. »Ich bin in Derry aufgewachsen, müssen Sie wissen, und jetzt bin ich zum ersten Mal seit meiner Kindheit wieder hier. Ich bin herumgeschlendert und habe geschaut, was sich hier verändert hat und was nicht. Und plötzlich ist mir eingefallen, dass ich etwa zehn Jahre meines Lebens – von drei bis dreizehn – hier verbracht und doch keinen einzigen Erinnerungsgegenstand an all diese Jahre habe. Nicht einmal eine Postkarte. Ich hatte ein paar Silberdollars, aber einen habe ich verloren, und die anderen habe ich einem Freund geschenkt. Ich glaube, ich möchte einfach ein Andenken an meine Kindheit haben. Ein bisschen spät – aber besser spät als gar nicht, heißt es nicht so?«
Carole Danner lächelte, und das Lächeln machte ihr ohnehin hübsches Gesicht noch schöner. »Das ist wirklich sehr süß«, sagte sie. »Wenn Sie ein bisschen schmökern möchten, werde ich inzwischen die Karte ausstellen.«
Ben grinste ein wenig. »Vermutlich muss ich eine Gebühr bezahlen«, sagte er. »Nachdem ich ja kein Einwohner von Derry bin und so.«
»Hatten Sie als Junge eine Karte?«
»Aber ja«, sagte Ben und fügte wahrheitsgetreu hinzu: »Abgesehen von meinen Freunden war das wohl das wichtigste…«
»Ben, willst du nicht raufkommen?«, rief plötzlich eine laute Stimme, die die Stille der Bücherei abrupt durchbrach.
Er zuckte schuldbewusst zusammen, wie Leute das so an sich haben, wenn jemand in einer Bücherei schreit, und drehte sich rasch um. Er sah niemanden, den er kannte … und einen Moment später bemerkte er, dass niemand aufgeschaut hatte. Die alten Männer lasen immer noch ihre Zeitungen und Zeitschriften: Derry News, Boston Globe, National Geographic, Time und Newsweek, U.S. News & World Report. An den Tischen im Raum mit den Nachschlagewerken steckten zwei Highschool-Mädchen immer noch ihre Köpfe über einem Stoß Zeitungen und einem Stapel Karteikarten zusammen. Mehrere Personen schmökerten in den Büchern auf den Regalen mit der Aufschrift NEUERSCHEINUNGEN BELLETRISTIK, NUR FÜR EINE WOCHE AUSLEIHBAR. Ein alter Mann mit einer lächerlichen Taxifahrermütze, eine kalte Pfeife zwischen den Zähnen, blätterte in einem Bildband mit Skizzen von Luis de Vargas.
Ben wandte sich wieder der jungen Frau zu, die ihn verwirrt betrachtete.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein«, sagte Ben lächelnd. »Ich glaubte nur, etwas gehört zu haben. Vermutlich hat der Flug mich doch mehr angestrengt, als ich dachte. Was wollten Sie vorhin sagen?«
»Wenn Sie eine Leihkarte hatten, als Sie hier wohnten, wird Ihr Name im Mikrofilmarchiv sein«, erklärte sie. »Hier hat es einige Veränderungen gegeben, seit Sie ein Kind waren, schätze ich.«
»Ja«, erwiderte er. »Vieles hat sich in Derry verändert … aber vieles scheint auch beim Alten geblieben zu sein.«
»Wie dem auch sei, ich kann nachschauen, ob ich Sie finde, und Ihnen dann eine neue Karte ausstellen. Das kostet keine Gebühr.«
»Das ist …«, begann Ben, und bevor er sich bedanken konnte, durchbrach jene Stimme wieder die geheiligte Stille der Bücherei, diesmal noch lauter und grässlich fröhlich: »Komm doch rauf, Ben! Komm doch rauf, du fettes kleines Dreckschwein! Es geht um dein Leben, Ben Hanscom!«
Ben räusperte sich. »Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte er.
»Keine Ursache.« Sie schaute ihn aufmerksam an. »Ist es draußen warm geworden?«
»Ein wenig«, erwiderte er. »Warum?«
»Sie …«
»Ben Hanscom hat es getan!«, schrie die Stimme. Sie kam von oben – vom Büchermagazin. »Ben Hanscom hat die Kinder ermordet! Packt ihn! Schnappt ihn!«
»… schwitzen!«, sagte die Bibliothekarin.
»Wirklich?«, fragte er völlig verwirrt.
»Ich werde Ihre Karte gleich fertigmachen«, sagte sie.
»Vielen Dank.«
Sie ging zu der alten Schreibmaschine am Ende der Ausleihtheke.
Ben entfernte sich langsam; er hatte rasendes Herzklopfen. Ja, er schwitzte; er spürte jetzt, dass ihm der Schweiß von der Stirn und aus den Achselhöhlen rann, und dass die Haare auf seiner Brust schweißnass waren. Er schaute hoch und sah den Clown Pennywise, der oben an der linken Wendeltreppe stand und auf ihn herabblickte. Sein Gesicht war dämonisch weiß, der blutrot gemalte Mund zu einem mörderischen Grinsen verzogen. Anstelle der Augen gähnten nur leere Höhlen. Er hielt eine Traube Ballons in der einen, ein Buch in der anderen Hand.
Nicht er, dachte Ben. Es. Ich stehe hier mitten in der Stadtbücherei von
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