Es: Roman
nein sagte, war ganz egal – er hätte auf jeden Fall zugeschlagen, so rasch und heftig, dass es im ersten Moment nicht einmal wehtat – der Schmerz setzte erst später ein, wenn die Taubheit verging. Und dann wieder seine fast freundliche Stimme: »Ich mache mir große Sorgen um dich, Beverly. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Du musst erwachsen werden, Beverly. Habe ich recht?«
Sie dachte an ihren Vater, der vielleicht noch hier in Derry wohnte. Er hatte hier gelebt, als sie zuletzt etwas von ihm gehört hatte, aber das lag … wie lange lag es zurück? Zehn Jahre? Jedenfalls war es lange vor ihrer Heirat gewesen. Sie hatte damals eine Postkarte von ihm erhalten, nicht eine einfache Postkarte wie jene mit dem Haiku, sondern eine Ansichtskarte mit der riesigen, scheußlichen Kunststoffstatue von Paul Bunyan, die vor dem City Center stand. Diese Statue war irgendwann in den Fünfzigerjahren aufgestellt worden und hatte sie als Kind sehr beeindruckt, aber die Karte ihres Vaters hatte trotzdem keine nostalgischen Erinnerungen in ihr wachgerufen; es hätte ebenso gut eine Karte mit dem Gateway Arch in Saint Louis oder der Golden Gate Bridge in San Francisco sein können.
»Ich hoffe, es geht Dir gut und Du bist anständig«, hatte er geschrieben. »Ich hoffe, dass Du mir etwas schicken wirst, wenn Du kannst, denn ich habe nicht viel. Ich liebe Dich, Bevvie. Dad.«
Er hatte sie geliebt, und sie vermutete, dass sie sich hauptsächlich deshalb in jenem langen Sommer 1958 so wahnsinnig in Bill Denbrough verliebt hatte – weil Bill als Einziger von den Jungen eine Autorität ausstrahlte, die sie mit ihrem Vater assoziierte … aber gleichzeitig war es eine andere Art von Autorität … eine Autorität, die zuhörte. Sie konnte weder in seinen Augen noch in seinen Handlungen Belege dafür finden, dass er der Meinung war, diese Art der Sorge ihres Vaters sei der einzige Grund, warum es Autorität gäbe … als wären Menschen Haustiere, die abwechselnd verhätschelt und streng bestraft werden mussten.
Aus welchen Gründen auch immer – jedenfalls hatte sie sich gegen Ende ihres ersten Treffens als vollständige Gruppe im Juli 1958, in dessen Verlauf er ganz natürlich die Rolle des Anführers übernommen hatte, Hals über Kopf in Bill verliebt. Es einfach eine Schulmädchenschwärmerei zu nennen wäre das Gleiche, als würde man einen Rolls-Royce als Fahrzeug mit vier Rädern bezeichnen, als Heuwagen. Sie kicherte nicht, und sie wurde auch nicht rot, wenn sie ihn sah; sie ritzte seinen Namen weder in Baumrinden noch schrieb sie ihn an eine der Wände der Kussbrücke. Sie lebte einfach die ganze Zeit mit seinem Bild im Herzen – es war eine Art süßer Schmerz. Sie wäre für ihn gestorben.
Und deshalb war es nur allzu verständlich, wenn sie sich damals einreden wollte, dass Bill ihr das Liebesgedicht geschickt hatte … obwohl es ihr nie gelungen war, sich selbst hundertprozentig zu überzeugen. Und später hatte sie dann erfahren, dass es Ben Hanscom gewesen war, der jenes Haiku geschrieben hatte. Ja, Ben hatte es geschrieben, er hatte es ihr erzählt (obwohl sie sich absolut nicht erinnern konnte, wann und unter welchen Umständen er es zugegeben hatte). Er hatte seine Liebe zu ihr fast ebenso gut verborgen wie sie ihre Gefühle für Bill
(aber du hast es ihm gesagt, Bevvie, du hast ihm gesagt, du liebst ihn)
aber für einen scharfen (und einfühlsamen) Beobachter war es trotzdem ganz offenkundig – es war an tausend Kleinigkeiten zu erkennen: wie ängstlich er immer bemüht war, ihr nicht zu nahe zu kommen, wie er den Atem anhielt, wenn sie seinen Arm oder seine Hand berührte, wie er sich anzog, wenn er wusste, dass er sie sehen würde. Lieber süßer dicker Ben.
Irgendwie hatte diese vorpubertäre Dreiecksgeschichte ein Ende gefunden, nur an das Wie konnte sie sich immer noch nicht erinnern. Sie glaubte, dass Ben zugegeben hatte, das kleine Liebesgedicht verfasst und ihr geschickt zu haben. Sie glaubte Bill gesagt zu haben, dass sie ihn liebte und immer und ewig lieben würde. Und irgendwie hatten diese beiden Geständnisse ihnen allen das Leben gerettet … oder nicht? Sie konnte sich nicht erinnern. Diese Erinnerungen (oder vielmehr Erinnerungen an Erinnerungen, das traf wohl eher zu) glichen Inseln, die in Wirklichkeit gar keine Inseln waren, sondern einzelne Wirbel eines großen Korallenrückgrats, die zufällig in kleinen, zusammenhängenden Teilen aus dem Wasser herausragten. Sobald sie jedoch
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