Es: Roman
(inzwischen war es schon Nacht, und Mike schlief seit zwei Stunden), erklärte er ihr die Realitäten des Lebens. Chief Borton war nicht Sheriff Sullivan. Wenn Borton Sheriff gewesen wäre, als die Sache mit den vergifteten Hühnern passierte, hätte Will nie seine zweihundert Dollar bekommen und hätte sich damit einfach abfinden müssen. Manche Männer unterstützten einen eben, andere hingegen nicht. Borton gehörte zu den Letzteren und war ein regelrechter Duckmäuser.
»Mike hat schon früher Schwierigkeiten mit diesem Jungen gehabt, das stimmt«, sagte er zu Jessica. »Aber ziemlich selten – weil er Henry nämlich möglichst aus dem Weg geht. Und nach diesem Vorfall wird er noch mehr vor ihm auf der Hut sein.«
»Heißt das, dass du gar nichts unternehmen wirst?«
»Ich nehme an, dass Bowers seinem Sohn alles Mögliche über mich erzählt hat«, sagte Will, »und darum hasst der Junge uns drei; hinzu kommt noch, dass sein Vater ihm vermutlich eingeredet hat, die einzig richtige Einstellung Niggern gegenüber sei Hass. Darauf läuft letztlich alles hinaus. Ich kann nichts an der Tatsache ändern, dass unser Sohn ein Neger ist. Er wird sein Leben lang Probleme wegen seiner Hautfarbe haben – ebenso wie du und ich. Sieh mal, sogar in dieser Christlichen Schule, die er besucht, weil du es unbedingt so haben wolltest, hat die Lehrerin ihnen erzählt, Schwarze seien nicht so gut wie Weiße, weil Noahs Sohn Ham seinen Vater angesehen hätte, als dieser betrunken und nackt war, während seine beiden Brüder ihre Blicke abgewandt hätten. Und aus diesem Grund seien Hams Söhne dazu verurteilt, immer Holzhauer und Wasserträger zu sein. Mikey sagt, sie habe ihn angesehen, während sie diese Geschichte vortrug.«
Jessica blickte ihren Mann wortlos und kläglich an. Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen. »Wird sich denn nie etwas daran ändern?«
Seine Antwort war freundlich, aber alles andere als tröstlich; damals glaubten Frauen ihren Männern noch, und Jessica sah keinen Grund, an Wills Worten zu zweifeln.
»Nein. Es gibt kein Entrinnen vor dem Wort Nigger, zumindest nicht in der Welt, wie sie heute ist, nicht in dieser Zeit, in der wir nun einmal leben. Nigger sind und bleiben Nigger, auch in Maine. Manchmal glaube ich, dass ich zum Teil nach Derry zurückgekehrt bin, weil es keinen besseren Ort gibt, um diese Wahrheit nie zu vergessen. Aber ich werde mit dem Jungen reden.«
Am nächsten Tag rief er Mike, der gerade im Stall beschäftigt war. Er setzte sich auf das Joch seiner Egge und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen.
»Du solltest diesem Henry Bowers aus dem Weg gehen«, sagte er.
Mike nickte.
»Sein Vater ist verrückt.«
Mike nickte wieder. Er hatte das schon oft in der Schule gehört, und das Aussehen und Benehmen des Mannes, soweit Mike ihn zu Gesicht bekam, bestätigte diese allgemeine Meinung.
»Ich meine, nicht nur ein bisschen verrückt«, fuhr Will fort, während er sich eine selbst gedrehte Zigarette anzündete. Er sah seinen Sohn ernst an. »Der Mann ist fast reif fürs Irrenhaus. Er ist so geistesgestört aus dem Krieg zurückgekommen.«
»Ich glaube, Henry ist auch verrückt«, sagte Mike mit leiser, aber fester Stimme, was Will sehr freute … allerdings konnte er – trotz allem, was ihm im Leben schon widerfahren war, sogar trotz des Brandes im Black Spot – einfach nicht glauben, dass ein Junge wie Henry verrückt sein könnte.
»Na ja, er hat seinem Vater zu oft aufmerksam zugehört, aber das ist schließlich nur natürlich«, sagte Will. Doch in diesem Punkt war sein Sohn scharfsichtiger. Entweder aufgrund seines ständigen Zusammenseins mit seinem Vater oder aber aufgrund irgendeines inneren Defektes wurde Henry langsam, aber sicher wirklich verrückt.
»Ich will nicht, dass du dein Leben mit Davonrennen verbringst«, sagte Will Hanlon. »Aber weil du ein Neger bist, wirst du vermutlich einiges durchmachen müssen. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, Daddy«, murmelte Mike und dachte an seinen Mitschüler Bob Gautier, der versucht hatte, Mike zu erklären, dass Nigger unmöglich ein Schimpfwort sein könne – schließlich verwende sein Vater es ständig. Es sei sogar ein positives Wort, hatte Bob erklärt. Wenn ein Boxer während der Freitagabendskämpfe im Fernsehen besonders viel einstecken müsse und trotzdem auf den Beinen bleibe, würde sein Daddy sagen: »Der Kerl hat einen so harten Schädel wie ein Nigger«, und wenn sich jemand bei der Arbeit besonders
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