Es: Roman
die Achseln, ohne seinen Satz zu beenden. Er konnte seine Gedanken und Gefühle nicht ausdrücken, nicht in Worte fassen – dass das, was sie erlebten, Ähnlichkeit mit einem Monsterfilm hatte, aber doch keiner war. Die Mumie hatte irgendwie anders ausgesehen als im Film … wesentlich realer. Und dasselbe traf auch auf den Werwolf zu – das konnte er bezeugen, denn er hatte das Ungeheuer aus einer so lähmenden Nähe gesehen, wie das in keinem Film möglich war, er hatte seine Hände in Sein struppiges, verfilztes Fell gegraben, er hatte in einem Seiner grünlich gelben Augen einen kleinen unheilvoll orangefarbenen Feuerkreis (wie einen Pompon!) gesehen. Diese Dinge waren … sie waren real gewordene Träume. Und sobald Träume real werden, hat der Träumer keine Macht mehr über sie, sie werden zu tödlichen Wesen, die selbstständig handelten. Die Silberkugeln hatten gewirkt, weil sie alle sieben geglaubt hatten, dass sie wirken würden. Sie hatten gewirkt … aber sie hatten Es nicht getötet. Und beim nächsten Mal könnte Es in einer neuen Gestalt zu ihnen kommen, in einer Gestalt, gegen die die Silberkugeln nichts ausrichten könnten.
Macht, Macht, dachte Ben, während er Beverly betrachtete. Das konnte er im Moment ungehemmt tun, denn sie und Bill sahen einander gerade wieder an und waren ganz versunken. Es war nur ein kurzer Augenblick, aber Ben kam er sehr lang vor.
Es läuft immer auf Macht hinaus. Ich liebe Beverly Marsh, und deshalb hat sie Macht über mich. Sie liebt Bill Denbrough, und deshalb hat er Macht über sie. Aber ich glaube, er fängt jetzt auch an, sie zu lieben. Vielleicht war es der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie sagte, sie könne nichts dafür, dass sie ein Mädchen sei. Vielleicht war es der flüchtige Blick auf ihre Brust. Vielleicht auch einfach die Art und Weise, wie sie bei einem bestimmten Licht manchmal aussieht; vielleicht sind es auch ihre Augen. Spielt keine Rolle, denn wenn er tatsächlich anfängt, sie zu lieben, so wird sie Macht über ihn gewinnen. Superman hat Macht, außer wenn irgendwo in seiner Nähe Kryptonit ist. Batman hat Macht, obwohl er weder fliegen noch durch Wände sehen kann. Meine Mutter hat Macht über mich, und ihr Chef in der Fabrik hat Macht über sie. Jeder hat in irgendeiner Weise Macht … vielleicht mit Ausnahme kleiner Kinder und Babys.
Dann fiel ihm ein, dass sogar kleine Kinder und Babys eine gewisse Macht hatten: Sie konnten schreien, bis man etwas unternehmen musste, um sie zur Ruhe zu bringen.
»Ben?«, fragte Beverly und wandte sich wieder ihm zu. »Hast du deine Zunge verschluckt?«
»Was? Nein. Ich habe über Macht nachgedacht. Über die Macht der Silberkugeln.«
Bill sah ihn aufmerksam an.
»Ich habe mich gefragt, woher diese Macht kam.«
»E-E-Es …«, begann Bill und verstummte. Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Beverly. »Ich seh euch doch bald, oder?«
»Na klar, komm morgen wieder her«, sagte Stan. »Wir werden Eddies zweiten Arm brechen«.
Alle lachten. Eddie tat so, als wollte er Stan sein Asthma-Spray an den Kopf werfen.
»Also, bis dann«, sagte Beverly und kletterte aus dem Klubhaus heraus.
Ben sah Bill an und stellte fest, dass er nicht in das Lachen eingestimmt hatte. Sein Gesicht hatte immer noch jenen nachdenklichen Ausdruck, und Ben wusste genau, dass man zwei- oder dreimal laut seinen Namen rufen müsste, bevor er reagieren würde. Und er wusste, worüber Bill nachgrübelte; auch ihn selbst beschäftigte diese Frage in der nächsten Zeit immer wieder. Natürlich nicht ständig. Er hängte für seine Mutter Wäsche auf, er spielte mit den anderen in den Barrens, und als es in den ersten vier Augusttagen sehr viel regnete, spielten sie bei Richie zu siebt stundenlang hingebungsvoll Parcheesi. Seine Mutter erzählte ihm, sie halte Pat Nixon für die hübscheste Frau Amerikas, und sie war entsetzt, als Ben sich für Marilyn Monroe aussprach (abgesehen von der Haarfarbe hatte Bev seiner Meinung nach Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe). Er hatte Zeit, um so viel Süßigkeiten zu essen, wie ihm nur unter die Hände kamen, und er hatte Zeit, um auf der hinteren Veranda zu sitzen und Lucky Starr auf den Jupitermonden zu lesen. Für all das hatte er Zeit, während die Wunde, die der Werwolf ihm zugefügt hatte, allmählich verheilte und zu jucken begann, denn das Leben ging weiter, und mit elf Jahren hatte man, so intelligent man auch sein mochte, noch keinen
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