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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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einmal dort bist. Oh, er hätte stärker sein können als der Geist seiner Mutter. Es wäre schwierig geworden, aber er war sich sicher, dass er es gekonnt hätte, wenn das alles gewesen wäre, was es brauchte. Es war schließlich Myra selbst gewesen, die die Waagschalen aus dem Gleichgewicht gebracht und damit seine Unabhängigkeit für immer beendet hatte. Sie hatte ihn durch ihre liebevolle Fürsorge dazu verurteilt, hatte ihn mit ihrer Sanftheit eingefangen, ihn mit ihrer übertriebenen Angst um ihn für immer und ewig festgenagelt. Myra hatte wie seine Mutter absolute Einsicht in sein Wesen erlangt: Eddie war in Wahrheit noch zarter, weil er manchmal vermutete, gar nicht zart zu sein; Eddie musste vor seinen eigenen vagen Anflügen von möglicher Tapferkeit beschützt werden.
    An Regentagen nahm Myra seine Gummischuhe aus dem Plastikbeutel im Schrank und stellte sie sorgsam neben den Garderobenständer im Flur. Neben seinem Teller mit ungebuttertem Weizentoast stand jeden Morgen eine Schale mit etwas, was auf den ersten Blick wie bunte, zuckersüße Frühstückszerealien für Kinder aussah, sich bei näherer Betrachtung aber als riesiges Sortiment bunter Vitaminpillen (von denen Eddie die meisten jetzt in seiner Medizintasche hatte) herausstellte. Myra verstand ihn wie seine Mutter. Er hatte wirklich keine Chance gehabt. Als junger, unverheirateter Mann war er dreimal von zu Hause ausgezogen und dreimal wieder zurückgekehrt. Als seine Mutter dann vier Jahre später im Vorraum ihres Apartments in Queens gestorben war und die Wohnungstür mit ihrem voluminösen Körper so massiv blockierte, dass die Rettungssanitäter (die von den Nachbarn ein Stockwerk tiefer gerufen wurden, als sie den dumpfen Aufschlag von Mrs. Kaspbraks Leib gehört hatten) die abgeschlossene Tür zwischen Küche und Feuertreppe aufbrechen mussten, um überhaupt in die Wohnung zu kommen, war er ein viertes und letztes Mal nach Hause zurückgekehrt – wieder zu Hause, wieder zu Hause, ei- fein; wieder zu Hause, wieder zu Hause mit Myra dem Schwein. Sie war ein Schwein, aber ein süßes Schwein, und er liebte sie. Darüber hinaus hatte er nicht die leiseste Chance gehabt. Mit dem verhängnisvollen hypnotischen Schlangenauge ihres Verständnisses hatte sie ihn magisch angezogen.
    Für immer nach Hause zurückgekehrt. Damals hatte er das geglaubt.
    Aber vielleicht habe ich mich geirrt, dachte er. Vielleicht ist dies nicht mein Zuhause, vielleicht war es das nie – vielleicht ist mein Zuhause dort, wo ich jetzt hinfahre. Zuhause ist der Ort, wo man schließlich dem Etwas im Dunkeln ins Auge sehen muss.
    Er schauderte hilflos, als wäre er ohne seine Gummischuhe im Regen herumgelaufen und hätte sich eine scheußliche Erkältung eingefangen.
    » Bitte sag’s mir, Eddie.«
    Sie begann wieder zu weinen. Tränen waren ihre letzte Waffe, wie sie auch die letzte Waffe seiner Mutter gewesen waren; eine sanfte, lähmende Waffe, die mit Güte und Zärtlichkeit fatale Risse im Panzer des eigenen Selbstschutzes hinterlässt.
    Nicht dass er einen solchen Panzer je getragen hätte – Panzer schienen ihm noch nie besonders gut gepasst zu haben.
    Tränen waren für seine Mutter mehr als nur ein Schutz gewesen; sie hatte sie als Waffe genutzt. Es war selten vorgekommen, dass Myra ihre Tränen auf diese zynische Art verwendet hatte … aber zynisch oder nicht, ihm wurde gerade bewusst, dass sie diese Waffe jetzt einsetzte … und Erfolg damit hatte.
    Doch das durfte er nicht zulassen. Es wäre zu einfach, sich nur auszumalen, wie der Zug durch die Dunkelheit nach Norden in Richtung Boston brauste, wie er einsam im Abteil säße, den Koffer über ihm im Gepäcknetz, die Reisetasche voller Medikamente zwischen den Beinen und die Furcht in seiner Brust wie ein Paket mit ranzigen Wick-Hustenbonbons. Zu einfach, sich vorzustellen, sie würde ihn nach oben führen, ihm mit Aspirintabletten und einer Alkoholabreibung ihre Liebe beweisen und ihn ins Bett bringen, wo sie dann vielleicht oder vielleicht auch nicht auf eine etwas andere Art Liebe machen würden.
    Aber er hatte es versprochen. Versprochen.
    »Myra, hör mir zu«, sagte er, bewusst trocken, sachlich und nüchtern.
    Sie sah ihn mit ihren nassen, nackten und verängstigten Augen an.
    Er dachte, er würde jetzt versuchen, es zu erklären – zumindest so gut er konnte; er würde ihr erzählen, dass Mike Hanlon angerufen und ihm gesagt hatte, dass es wieder angefangen habe, und dass er davon ausgehe, dass auch

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