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Es: Roman

Es: Roman

Titel: Es: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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trotzdem furchtlos sein. Ich weiß, du trinkst zu viel Bier und hast nicht genug Bewegung; ich weiß, manchmal hast du Albträume …«
    Er war erschrocken. Ziemlich erschrocken. Beinahe panisch.
    »Ich träume nie.«
    Sie lächelte. »Das erzählst du den Journalisten, wenn sie dich fragen, woher du deine Ideen hast. Aber das stimmt nicht. Es sei denn, du hast nur Verdauungsstörungen, wenn du nachts anfängst zu stöhnen. Und das, mein lieber Billy, glaube ich nicht.«
    »Spreche ich im Schlaf?«, fragte er vorsichtig. Er konnte sich nicht an Träume erinnern. Gar keine Träume, weder gute noch böse.
    Audra nickte. »Manchmal. Aber ich kann nie verstehen, was du sagst. Und einige Male hast du geweint.«
    Er sah sie bestürzt an. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund bis hinunter in die Kehle, bitter wie aufgelöstes Aspirin. Jetzt weißt du also, wie Angst schmeckt, dachte er. Wurde aber auch Zeit, dass du’s rausfindest, nach all dem, was du schon darüber geschrieben hast. Er vermutete, dass er sich an diesen Geschmack gewöhnen würde. Wenn er lang genug lebte.
    Erinnerungen bedrängten ihn. Als würde irgendeine geheimnisvolle schwarze Blase in seinem Gehirn immer größer, als drohte sie, schädliche Bilder
    (Träume)
    aus seinem Unterbewusstsein in sein geistiges Gesichtsfeld zu schleudern, wo sie ihn zum Wahnsinn treiben würden. Er versuchte sie zurückzustoßen, aber zunächst hörte er eine Stimme, die klang, als würde jemand, der bei lebendigem Leib begraben worden war, aus dem Boden zu ihm heraufrufen. Es war Eddie Kaspbraks Stimme.
    Du hast mir das Leben gerettet, Bill. Diese großen Jungen – ich hab Schiss vor ihnen. Manchmal glaube ich, dass sie mich wirklich umbringen wollen …
    »Deine Arme«, rief Audra.
    Bill schaute hinab. Er hatte an beiden Armen eine Gänsehaut – eine unheimliche Gänsehaut mit weißen Erhebungen, die so groß wie Insekteneier waren. Sie starrten beide darauf wie auf ein interessantes Exponat im Museum. Langsam verging die Gänsehaut wieder.
    Audra brach das Schweigen: »Und ich weiß noch etwas anderes. Jemand hat dich heute Morgen aus den Staaten angerufen und gesagt, dass du mich verlassen musst.«
    Er stand auf, betrachtete kurz die Spirituosenflaschen, dann ging er in die Küche und kam mit einem Glas Orangensaft zurück. »Du weißt, dass ich einen Bruder hatte, und du weißt, dass er starb – aber du weißt nicht, dass er ermordet wurde«, sagte er.
    Audra gab hinter ihm ein keuchendes Geräusch von sich.
    »Ermordet? O Bill, warum hast du es …«
    »Dir nicht erzählt?« Er lachte – es war wieder jenes bellende Geräusch. »Ich weiß nicht.«
    »Was ist passiert?«
    »Wir lebten damals in Derry. Da war eine Sturmflut, aber die war fast vorüber, und George hat sich gelangweilt. Ich hatte Grippe und lag krank im Bett. Er wollte, dass ich ihm aus Zeitungspapier ein Boot machte. Ich hatte im Ferienlager im Jahr davor gelernt, wie das geht. Er sagte, er wolle es in den Rinnsteinen der Witcham Road und Jackson Street schwimmen lassen, denn die waren noch randvoll mit Wasser. Ich bastelte ihm also ein Boot, er bedankte sich und ging nach draußen … das war das letzte Mal, dass ich meinen Bruder George lebend gesehen habe. Vielleicht hätte ich ihn retten können, wenn ich nicht Grippe gehabt hätte.«
    Er hielt inne und fuhr sich mit der rechten Hand über die linke Wange, als würde er dort nach Bartstoppeln suchen. Seine Augen, vergrößert durch die dicken Brillengläser, starrten nachdenklich ins Leere.
    »Es passierte genau dort, auf der Witcham Road, unweit der Kreuzung mit der Jackson Street. Wer auch immer ihn ermordet hat, riss ihm den linken Arm aus, so wie ein Zweitklässler einer Fliege die Flügel ausreißt. Der Gerichtsmediziner meinte, er könne aufgrund des Blutverlusts oder des Schocks gestorben sein. Mir war und ist es egal, was letztlich die Todesursache war.«
    »O Gott, Bill!«
    »Du fragst dich sicher, warum ich dir das nie erzählt habe. Um ehrlich zu sein, frage ich mich das selbst. Wir sind seit fast elf Jahren verheiratet, und bis heute wusstest du nicht, was Georgie zugestoßen ist. Ich weiß über deine ganze Familie Bescheid – sogar über deine Onkel und Tanten. Ich weiß, dass dein Großvater in Iowa gestorben ist, als er in betrunkenem Zustand in seiner Garage an einer Bandsäge herumhantierte. Ich weiß diese Dinge, weil verheiratete Menschen, ganz egal, wie beschäftigt sie sind, nach einer gewissen Zeit fast alles erfahren.

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