Es: Roman
siebzehnten.«
»Ja, zu Webby.« Unwin brach wieder in Tränen aus. »Aber wir versuchten, ihn zu retten, als wir sahen, dass er in ernsthaften Schwierigkeiten war … zumindest ich und Stevie Dubay versuchten es … wir hatten nicht die Absicht, ihn umzubringen! «
»Nun komm schon, Chris, verarsch uns nicht«, sagte Boutillier. »Ihr habt die kleine Tunte in den Kanal geworfen.«
»Ja, aber …«
»Und ihr drei seid hergekommen, um ein Geständnis abzulegen. Chief Rademacher und ich wissen das zu schätzen, nicht wahr, Andy?«
»Na klar. Man muss schon ein ganzer Mann sein, um für eine solche Tat einzustehen, Chris.«
»Also reiß dich jetzt nicht mit Lügen in die Scheiße! Ihr habt doch beschlossen, ihn in den Kanal zu werfen, sobald ihr ihn und seinen schwuchteligen Freund aus dem Falcon kommen saht, stimmt’s?«
»Nein!«, protestierte Chris Unwin heftig.
Boutillier holte eine Schachtel Marlboro aus seiner Hemdtasche und schob sich eine Zigarette in den Mund. Dann hielt er Unwin die Packung hin. »Zigarette?«
Unwin nahm eine. Sein Mund zitterte so stark, dass Boutillier lange mit dem Streichholz vor seinem Mund herumfuchteln musste, um sie ihm anzustecken.
»Aber sobald ihr gesehen habt, dass er diesen Hut aufhatte?«, fragte Rademacher.
Unwin zog heftig an der Zigarette, senkte den Kopf, sodass ihm sein fettiges Haar über die Augen fiel, und stieß den Rauch durch die Nase aus, die mit Mitessern übersät war.
»Ja«, flüsterte er kaum hörbar.
Boutillier beugte sich vor. Seine braunen Augen funkelten. Sein Gesicht glich dem eines Raubtiers, aber seine Stimme war sanft und freundlich. »Was, Chris?«
»Ich habe ›ja‹ gesagt. Ich glaub schon, dass wir ihn reinwerfen wollten. Aber wir wollten ihn nicht umbringen.« Er hob den Kopf und sah sie mit angstverzerrtem Gesicht an, offensichtlich noch immer völlig außerstande, die dramatische Veränderung zu begreifen, die sein Leben erfahren hatte, seit er am Vorabend um halb acht von daheim weggegangen war, um mit zwei Freunden den letzten Abend des Kanal-Festivals von Derry zu feiern. »Wir wollten ihn wirklich nicht umbringen!«, wiederholte er. »Und dieser Kerl unter der Brücke … ich weiß immer noch nicht, wer das war.«
»Was war das für ein Kerl?«, fragte Rademacher, doch ohne großes Interesse. Sie hatten auch diesen Teil der Geschichte schon gehört, aber keiner von beiden glaubte daran – Männer, die unter Mordanklage standen, tischten fast immer früher oder später einen mysteriösen Unbekannten auf. Boutillier hatte sogar einen Namen für dieses Phänomen: Er bezeichnete es als »Das Einarmiger-Mann-Syndrom«, nach der alten Fernsehserie Auf der Flucht.
»Der Kerl im Clownskostüm«, sagte Chris Unwin und schauderte. »Der Kerl mit den Ballons.«
3
Das Kanal-Festival vom 15. bis 21. Juli war ein Riesenerfolg; darin stimmten die meisten Einwohner Derrys überein. Es verbesserte die allgemeine Stimmung und das Image der Stadt … und das städtische Bankkonto. Das eine Woche dauernde Festival wurde zum hundertsten Jahrestag der Eröffnung des Kanals abgehalten, der durch die Mitte der Innenstadt führte. Es war der Kanal gewesen, der den Holzhandel in Derry in den Jahren 1884 bis 1910 erst so richtig lukrativ gemacht hatte; es war der Kanal gewesen, der zu Derrys Aufschwung geführt hatte.
Die Stadt wurde von Ost nach West und von Nord nach Süd herausgeputzt. Schlaglöcher, die nach Aussage mancher Einwohner zehn Jahre lang nicht ausgebessert worden waren, wurden sorgfältig mit Teer gefüllt und glatt gewalzt. Die städtischen Gebäude wurden im Innern aufpoliert und außen neu gestrichen. Die schlimmsten Schmierereien im Bassey Park – darunter sehr viele wohldurchdachte und kaltblütige Diskriminierungen von Homosexuellen, wie BRINGT ALLE SCHWULEN UM und AIDS IST DIE STRAFE GOTTES, IHR VERDAMMTEN HOMOS! – wurden von den Bänken und von den Holzwänden der schmalen, überdachten Überführung über den Kanal – der sogenannten »Kussbrücke« – entfernt.
Ein Stadtmuseum wurde in drei leer stehenden Ladenlokalen der Innenstadt eingerichtet, und Michael Hanlon, ein ortsansässiger Bibliothekar und Amateurhistoriker, besorgte die Exponate. Die ältesten Familien der Stadt stellten großzügig ihre Schätze zur Verfügung, und im Laufe der Festwoche bezahlten fast 40 000 Besucher bereitwillig einen Vierteldollar, um Speisekarten der Speisehäuser um 1890, Äxte und andere Utensilien der Holzfäller um 1880,
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