Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
deutschen Schüler schon haben.«
»Ich heiße Rosina, Tochter von Dad Mohamad, und bin im zwölften Schuljahr. Ich habe sechs Brüder und drei Schwestern, zwei Schwägerinnen und drei Nichten und Neffen. Mein Vater ist Lehrer in Afghanistan. Vier meiner Brüder und zwei meiner Schwestern gehen zur Schule. Ich möchte Schriftstellerin werden, und mein Vorbild ist Ibn Sina. Ich möchte auch ein Buch über Medizin schreiben. Ich wünsche mir, dass Afghanistan ein Land wird, in dem wirklich etwas gebaut wird und in dem es Frieden und eine herzliche Verbindung zwischen den Menschen gibt. Es gibt große Unterschiede zwischen dem Leben der Deutschen und der Afghanen. Die Deutschen leben in Frieden. Sie haben Zugang zur Bildung, leben sicher, und ihre ökonomische Lage ist gut. Die Deutschen haben alles, was sie brauchen – sie haben ein ruhiges Leben ohne Probleme. Sie können Ausflüge und Picknick machen. Sie sind keine Flüchtlinge. Alles haben sie für die Winter- und Sommermonate. Man kann ihr Leben nicht mit unserem vergleichen. Afghanen haben zwei Probleme: Sie sind Flüchtlinge und haben wenig Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass es wenig Sicherheit gibt und kaum Zugang zur Bildung. In Afghanistan ist alles viel teurer. Die Menschen können nicht in Ruhe leben, weil es keine Sicherheit gibt.«
In der obersten Klasse der Schule von Bojasar schließlich sitzen nur vierzehn Mädchen.
»Diese Mädchen«, sagt die Direktorin, »sind alle Heldinnen. Sie haben sich gegen die Väter und die Brüder durchgesetzt, sie sind von den Jungen auf dem Schulweg gehänselt worden, aber sie haben sich durchgesetzt.«
Diese Mädchen haben seit elf Jahren keinen Sport gemacht, weil sie die Klassenzimmer nicht verlassen durften. Es hätten ja Jungen und Männer von außen zusehen können.
»Sie waren einmal hundert Schülerinnen«, sagt die Direktorin, »und Sie sehen ja, heute sind sie noch vierzehn. Sie kamen auch deshalb durch, weil sie verschworen waren, sich immer gegenseitig halfen.«
Sie mussten noch kämpfen, sie haben den Weg für die nachfolgenden Mädchen bereitet und alle Arten von Einschüchterungen erlebt. Manchmal hatten die Väter und Onkel nur Angst vor den Gefahren des Schulwegs, vor den drohenden Vergewaltigungen, den Minen. Aber manchmal wollten die Alten sie auch bloß nicht gebildet sehen.
»Wir haben die Eltern einbestellt wegen dieser Probleme«, sagt die Direktorin, »und Sie sehen ja, da sitzen die Mädchen, alle stark.«
Wie wird das Leben dieser »Heldinnen« nach dem Abitur weitergehen? Ein Mädchen sagt ernst und bestimmt:
»Ich werde Ärztin, weil sie eine Klinik in dieser Gegend bauen, und ich weiß, es gibt hier keine Ärztin. Wir sind nicht fortschrittlich. Wir brauchen Bildung. Wir müssen uns selbst helfen können. Die Frauen sollen ihre Rechte bekommen.«
Doch wenn sie studieren wollen, müssen sie in Kabul wohnen. Aber das erlauben nur die Eltern von drei der Mädchen im Raum. Den anderen wird nicht einmal das Internat erlaubt. Also müssten die Mädchen täglich hin- und herfahren.
»Habt ihr Angst vor Kabul?«
»Nein«, sie lachen.
»Hat sich die Lage verbessert?«
»Schon, aber im Zentrum nicht.«
»Was fehlt euch?«
»Die Wirtschaftslage ist so schlecht.«
»Wie nennt ihr die Lage heute: Krieg oder Frieden?«
»Frieden.«
»Wie lange schon?«
»Seit etwa acht Jahren.«
»Und daran kannst du dich erinnern?«
»O ja«, sie schlägt die Augen nieder.
»Könnt ihr euch ein Afghanistan ohne Ausländer vorstellen?«
»Schon, aber nur, wenn wir in Bruderschaft miteinander leben. Es gibt so viel Uneinigkeit, so viele Waffen.«
»Worüber würdet ihr mit dem Präsidenten reden, wenn er käme, um euch zu hören?«
»Über den Frieden und die Frauenrechte.«
Der junge Lehrer mischt sich ein:
»Der Präsident würde dies mit Schmerzen hören, aber er wird nie kommen, und wenn er käme, würde er nicht zuhören. Er soll weniger schlafen, weniger essen. Er soll mehr an unser Glück denken. Eines Tages wird er sich vor Gott verantworten müssen.«
Und die Direktorin fällt ein:
»Die Demokratie hängt nicht vom Präsidenten ab. Sie hängt vom Wissen ab, von der Bildung, und wir haben so viele Gebildete, Kundige. Nur auf der Basis der Erziehung hat Demokratie ihren Sinn.«
Ja, diese Kinder, die so früh mit der politischen Realität konfrontiert werden, sie nehmen ihre Fragen aus der unmittelbaren Erfahrung:
»Was hat der Präsident für uns getan? Wer baut die Straße? Warum
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