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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Ihre glücklichen Jahre?«
    »Das war Afghanistan während der Königszeit, vor dem Einmarsch der Russen. Wenn damals auf einem Weg ein Kind starb, wollte niemand mehr diesen Weg gehen. Heute liegen Tote am Wegrand, und die Leute gehen einfach weiter. Die Toten sind normal geworden.«

    Sie gehen in den Nebenraum zum Gebet. Die Mücken sirren in den hauchdünn fallenden Regen. Im Durchgang zu der Tee trinkenden Gesellschaft beten sie mit dem Gesicht zur Wand, die Stirn immer wieder gegen den Boden führend. Die Fliegen kreisen, in den Gewändern sitzen die Flecken der Suppe, des Tees, des Regens. Sie bringen mir einen bestickten Mantel aus Kandahar. Mein Blick geht in die Runde. Jeder hat seine Geschichte erzählt, der mit dem Auge, der alte Kämpfer, der Dorfälteste, der Paschtunen-Fahrer. Nach solchen Mahlzeiten kommt es auf dem Land bisweilen vor, dass der Gastgeber reihum Schmerztabletten anbietet wie Süßigkeiten, und greift jemand da nicht zu, ist der Hausherr verletzt.
    Ich erinnere mich einer anderen Mädchenklasse auf dem Lande, wo ich neben der Tafel saß. Rechts und links hingen die farbigen Schaubilder, die nicht die zoologischen oder botanischen Spezies abbildeten wie bei uns, sondern Waffen aller Art, produziert vor allem in der westlichen Welt. Der Alte im Kaftan gab in dieser Schule nur den Minen-Unterricht. Die Kinder starrten bewegungslos auf die Morphologie des Schreckens.
    »Wer hat im wirklichen Leben schon einmal eine Mine gesehen?«, fragte ich.
    Die Hälfte aller Hände flogen hoch, und die Gesichter glühten plötzlich, stolz, kundig zu sein. Der Alte fragte die Namen der Minen ab. Vom Zeigestock von Objekt zu Objekt geführt, nannten sie die Namen der tödlichen Waffen. Der Chor der Stimmen klang unisono. Er deklamierte die Fabrikate wie Tiernamen.

    »Und wie habt ihr euch geschützt?«
    »Wir haben Bunker gegraben mit unseren Händen«, sagte ein Mädchen.
    Auf den Feldern an den Hängen des Hindukusch markierten die weißen Steine die geräumten Flächen, die roten die Minenfelder. Doch dann war der Schnee gefallen und hatte alles weiß gemacht. Als die Schmelze kam, führte der Fluss zwar nach Jahren zum ersten Mal wieder Wasser, aber die rot markierten Steine waren auf die geräumten Felder geschwemmt worden und umgekehrt, und die Kinder liefen in die vermeintlichen sicheren Flächen und verloren Gliedmaßen oder ihr Leben. Von den Berghängen drohten zudem Schlammlawinen, die ebenfalls Minen mitführen können und auch schon ganze Familien begraben haben. Männer, Frauen, Kinder zogen trotzdem von einer Wasserausgabestelle mit ihren Kanistern über die Hügel davon, auf eine Felswand zu, in der die Hütten saßen wie Starenkästen.
    Sie zogen über die verschneite Ebene davon, Kindergreise, grünäugige Hexen, kleine Mädchen im Trümmerfrauen-Look, in Nachkriegsmänteln mit Kopftüchern, eines mit Samtkleid zu Gummistiefeln, uralte Zwergmenschen mit gezeichneten Gesichtern, manchmal fror das Wasser in ihrem Kanister, und manchmal umarmten sie nur ein einzelnes Fladenbrot an ihrer Brust. Auch aus dem Iran und Pakistan hatte man die Flüchtlinge in dieses Nichts geschickt, weil dort nun angeblich Ruhe herrschte. Die Kinder standen da in Flipflops, mit Frostbeulen an den Füßen und im Gesicht. Heimgekehrt aus dem Exil oder abgeschoben auch aus Deutschland, fanden sie sich an Berghängen, fast ohne Schutz vor dem Verhungern oder Erfrieren. Wo sie ankamen, standen bloß noch Ruinen.
    Ringsum lag die zerklüftete Schneelandschaft mit Hütten aus Lehmziegeln, in die der Frost Risse sprengte. Erst als auch in den entlegeneren Gebieten der Schulunterricht etabliert wurde, sich Hilfsorganisationen für Versorgung und nachhaltige Erziehung einsetzten, erlosch der Widerstand der Eltern, und nicht einmal die Tatsache, dass alle Schulen im Umkreis koedukativ waren, schuf noch Probleme: Für die gewünschte Mädchenschule stellte ein Vater sein Privathaus zur Verfügung.
    »Unter den Taliban«, berichtete die Lehrerin, »habe ich heimlich, im Kopf und im Herzen gelernt. Jetzt tue ich es offen, und es ist eine Ehre für mich.«

    Auf dem Dach der Schule stehend, ahnt man die Fortschritte ringsum. Die Felder an den Hängen sind bestellt, man hört die Hähne, das Hämmern der Arbeiter in der Ferne, das Rufen der Bauern. In dieser Stunde schmeckt die Luft nach Herbst, und man möchte nicht glauben, dass hier lange eine der Hauptlinien des Krieges verlief. Manchmal steigt in der Landschaft ein

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