Es wird Tote geben
hatte nicht die Energie dieser hyperaktiven, drogenfressenden Teenager.
„Gut, was anderes: Hast du Yvonne Raab gekannt?“
„Ja, schon … Was hat denn die damit zu tun?“
„Gar nichts … aber vielleicht weißt du irgendetwas, was ich nicht weiß.“
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel, was für einen Grund sie gehabt hat, sich umzubringen.“
„Weil sie nicht mehr leben wollte … so schwer zu verstehen ist das nicht, oder?“
„Hör mit der Klugscheißerei auf. Jemand, der offensichtlich keine gravierenden Probleme mit sich oder seiner Umwelt hat, bringt sich nicht einfach um … oder?“
„Nein, wahrscheinlich nicht …“
„War sie vielleicht unglücklich verliebt?“
„Weiß ich nicht, so gut habe ich sie auch nicht gekannt.“
„Hat sie Drogen genommen?“
„Die Yvonne? Sicher nicht … ab und zu einmal ein E, ein bisschen Gras vielleicht.“
„Also hat sie Drogen genommen.“
„Na ja … nicht so wie ein paar andere …“
„Bei euch ist Hopfen und Malz verloren … raus jetzt mit dir“, meinte Schäfer kopfschüttelnd.
7.
In der Nacht war es auf der Bundesstraße zu einem schweren Verkehrsunfall gekommen. Zwei Pkw waren aus noch ungeklärter Ursache mit hoher Geschwindigkeit frontal zusammengestoßen. Die beiden Lenker, ein achtzehnjähriger Lehrling und ein zwanzigjähriger Mechaniker, dürften auf der Stelle tot gewesen sein. Keine Bremsspuren? Also waren sie beide am Steuer eingeschlafen und zufällig frontal aufeinandergeprallt? Wie auch immer … den zahlreichen Holzkreuzen auf der Bundesstraße würden zwei weitere hinzugefügt werden. Die schienen auf dem Land ja aus dem Boden zu schießen wie die Haselnussstauden. In den ersten Wochen geschmückt mit Blumen, Kerzen, persönlichen Gegenständen, bei jungen Opfern oft auch mit krummen Gedichten und Zetteln, auf denen groß Warum!? stand. Ja, warum wohl, war Schäfer schon ein paar Mal versucht gewesen, auf besagte Zettel zu schreiben.
Zum Glück hatte er nicht freiwillig die Nachtschicht übernommen, wie es ursprünglich geplant gewesen war, damit Plank einem Auswärtsspiel seiner Fußballmannschaft beiwohnen konnte. Nach nur zwölf Kilometern hatte der Bus des Fanclubs eine Panne gehabt. Und Plank, der auf groteske Weise so rational wie abergläubisch sein konnte, hatte das als böses Omen gesehen, sich ein Taxi genommen und auf der Rückfahrt Schäfer angerufen, dass er doch nicht die Schicht zu machen brauchte.
So hatte Schäfer kurz vor fünf Uhr zu seiner Morgenwanderung aufbrechen können, die ihn zu einer selten guten Stimmung führte. Die Mohnblüten leuchteten in der flach einfallenden Sonne aus den Feldern hervor wie kleine Laternen, während ihre Halme noch kaum auszumachen waren. Über den Äckern lösten sich Nebelfetzen auf wie harmlose Träume. Zwei Rehe ästen am Waldrand, spitzten die Ohren, sahen zuckend in seine Richtung, witterten seine Harmlosigkeit und frühstückten friedlich weiter. Reine Idylle. Achtung, trügerisch.
Er hörte ein Singen. Erschrak zuerst, weil er glaubte, dass es aus seinem Kopf kam. Auch als er die Frau sah, der die Stimme naturgemäß gehören musste, blieb er für ein paar Sekunden verunsichert: Zu hell, zu klar, zu makellos floss ihr Lied, flossen die lateinischen Worte miserere mei, Deus in seine Ohren. Weiter ins Gehirn, das wohl weniger Schwierigkeiten damit gehabt hätte, einen engelhaften Kastraten in strahlend weißer Toga im Feld stehen zu sehen, als den wundervollen Gesang dieser Verrückten zuzuschreiben. Die Schäfer nun mit erhobenem Kinn und bebendem Kehlkopf entgegenkam. Jössas, sagte er sich und wich schnell in Richtung Wald aus, jetzt will sie ihren Hund anlocken wie die Sirenen Odysseus. Nach etwa zehn Sekunden blickte er über seine Schulter, weil der ätherische Klangkörper verstummt war. Da stand sie, mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen, das Gesicht der Morgensonne zugewandt. Und dieses Bild … mit einem Mal war die Frau Schäfer weniger unheimlich als vielmehr sympathisch. Ob sie unter psychiatrischer Beobachtung stand, sollte er dennoch demnächst herausfinden. Sonst kam ihm womöglich ein Einsatz wegen eines schizoiden Anfalls inklusive Dämonenfantasien und Küchenmesser zuvor.
„Bin beim Bürgermeister und diesen Filmspinnern“, meinte er kurz vor Mittag zu Hornig, der mit seinen Zeigefingern und angestrengter Miene auf die Tastatur einstach und nur zu einem behäbigen Nicken fähig war. Der alte Knabe brauchte unbedingt ein paar
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