Escape
grinste, seine Grübchen zeigten sich. »Wir gehen nirgendwohin.«
Die Schiebetüren öffneten sich mit einem ähnlichen Ton wie die Automatiktür zum Labor im Farmhaus. Unwillkürlich fragte ich mich, was damit wohl jetzt passieren würde. Und wo Dad hinziehen würde. Und was mit meinen Sachen geschehen war. Mir fiel aber nichts ein, was ich wirklich vermisste. Allerhöchstens meine Zeichnungen, aber das war es auch schon.
»Entschuldigen Sie«, rief ich. »Dieser Mann hier ist verletzt.« Irgendetwas sagte mir, dass es klüger war, das Wort verletzt zu benutzen, als zu sagen, dass er angeschossen worden war. Ich wollte nicht auch noch verhört werden.
Die Frau von der Notaufnahme drückte auf einen Knopf an ihrer Telefonanlage und sagte: »Eine Schwester ist unterwegs.«
Ich ging um den Stuhl herum und nahm Dads Hand. »Kommst du klar?«
Er legte den Kopf schief. »Natürlich komm ich klar. Geh jetzt.«
»Werden wir uns je wiedersehen?«
»Willst du das denn wirklich? Nach allem, was ich getan habe...«
»Ja, will ich. Ich kenne doch niemanden außer dir. Und du wirst immer mein Dad bleiben.«
Er schüttelte den Kopf und wich meinem Blick aus. Ich fragte mich, ob er genauso gerührt war wie ich. »Ich habe nicht damit gerechnet, das jemals von dir zu hören. Besonders nicht jetzt, wo du die Wahrheit kennst.«
Eine Schwester kam herbeigeeilt und übernahm den Rollstuhl. »Was ist passiert?«
»Er ist verletzt. Ich... äh -«
»Sie hat mich gefunden«, fiel Dad mir ins Wort. »Wenn diese junge Dame mich nicht von der Straße geholt hätte, wäre ich längst tot.«
»Ich bringe Sie sofort zum nächsten Arzt.« Eine andere Schwester drückte auf den Knopf, der die Tür zu den Behandlungsräumen öffnete. Die Doppeltür schwang nach innen und gab die Sicht auf das geschäftige Treiben dahinter frei.
Dad zwinkerte mir noch kurz zu, bevor die Schwester ihn wegschob.
Draußen huschte ich schnell wieder in den wartenden Wagen, neben Sam. Seine Augen waren einen Spaltbreit geöffnet.
»Du bist wach. Gott sei Dank. Ich nehme an, ich brauche dich gar nicht zu fragen, ob du dich einem der Ärzte hier vorstellen willst?«
»Das bekommt Cas schon hin«, murmelte er.
Cas schnaufte. »Oh, ich weiß nicht, mein Freund. Das könnte gefährlich werden. Hinterher hast du vielleicht ein paar Organe weniger als vorher.«
Als Nick losfuhr, nahm Sam meine Hand und wob unsere Finger ineinander. Ich lächelte. Ein echtes Lächeln, das von Herzen kam. Weil die Jungs wieder bei mir waren. Und weil wir es geschafft hatten. Wir waren frei.
35
Das trockene Gras raschelte, als ich mich auf dem Friedhof von Port Cadia vor den beiden Grabsteinen auf den Boden setzte. Blätter hatten sich am Fuß der großen Steine und in der einzigen Vase mit bereits verblühten Blumen gesammelt.
Ich las wieder und wieder die Namen auf den Steinen.
Charles O'Brien, Geliebter Ehemann und Vater.
Melanie O'Brien, Geliebte Ehefrau und Mutter.
»Hallo«, sagte ich in die Stille und kam mir dabei komisch vor. Dennoch brachte es mich ihnen irgendwie näher, meinen richtigen Eltern. »Ich bin's, Anna. Es hat lange gedauert, bis ich wieder nach Hause gefunden habe. Aber jetzt bin ich hier.« Ich fuhr mit der Hand über die grobe Kante des Grabsteins, der für meinen Vater errichtet worden war. Dann tätschelte ich den meiner Mutter. »Wie gern würde ich mich an euch erinnern können.«
Ich wartete, ob vielleicht etwas auftauchte, eine alte Erinnerung, die es geschafft hatte, sich vor dem Eingriff der Sektion zu verbergen. Doch nichts geschah. Ich wusste nicht mal, wie die Haarfarbe meiner Mutter gewesen war. Noch, wer mir meine braunen Augen vererbt hatte.
Aber vielleicht erwartete ich auch zu viel. Für den Moment war es schon ausreichend, ihre Gräber gefunden zu haben. Ich sah mit eigenen Augen, dass es sie wirklich gegeben hatte, das war doch zumindest ein Anfang. Nun blieb mir alle Zeit der Welt herauszufinden, wer sie gewesen waren oder ob es noch andere Familienmitglieder gab. Eine Tante oder einen Onkel vielleicht, der ein paar meiner Gedächtnislücken stopfen konnte.
Sam ließ sich neben mir nieder. Seine Wunden machten ihm immer noch zu schaffen, doch er hatte sich in den vergangenen Wochen schon einigermaßen erholt. Seine Haare waren länger und dunkler geworden, hatten fast die gleiche Farbe wie sein dicker schwarzer Mantel. Der November war angebrochen und Schnee fiel in sanften Flocken um uns, doch der Boden war noch nicht kalt
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