Escape
ansehen«, fuhr Dad fort. »Die Fortschritte prüfen.«
»Nehmen sie die Jungs diesmal mit?«
Obwohl ich mir wünschte, dass die Jungs in die Freiheit entlassen wurden, gehörten das Labor, die Protokolle und Tests mittlerweile genauso zu meinem Leben wie zu ihrem. Ich konnte mir einen Alltag ohne sie nur schwer vorstellen.
Dad zuckte mit den Schultern. »Das werde ich erst erfahren, wenn es so weit ist.«
»Wo landen sie dann wohl?«
»Auch darüber weiß ich nichts.«
Ich konnte mir Sam einfach nicht im Alltag vorstellen. Wie er sich zum Beispiel einen Donut kaufte oder Zeitung lesend auf einer Parkbank saß. Die anderen schon eher. Cas würde wie andere Jugendliche in seinem Alter sicher hauptsächlich Mädchen abschleppen. Nick war der Inbegriff der arschigen Sportskanone, mit der typischen Großspurigkeit und dem passenden attraktiven Erscheinungsbild. Trev hatte mir gegenüber einmal erwähnt, dass er, wenn er je wieder frei sein sollte, Englische Literatur studieren wollte.
Aber Sam...
»Werden sie je freigelassen?«
Dad nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. »Ich weiß es nicht, Anna. Ich weiß es wirklich nicht.«
Ich spürte, dass das Gespräch damit beendet war, und hielt meinen Mund. Wir aßen auf, dann spülte ich und wischte den Tisch ab, während Dad sich im Wohnzimmer aufs Ohr legte. Danach warf ich die Waschmaschine an.
Mittlerweile war es nach acht und schon dunkel draußen. Ich ging nach oben in mein Zimmer und zappte mich durch sämtliche Fernsehkanäle, fand aber nichts, das sich lohnte anzuschauen. Neue Bücher hatte ich auch keine zur Hand. Weil die meisten häuslichen Pflichten erledigt waren, entschied ich mich, mal wieder etwas in das Tagebuch meiner Mutter zu zeichnen.
Ich legte mich bäuchlings aufs Bett und schlug meine letzte Skizze auf. Sie zeigte ein Mädchen im Wald, die Äste der Ahornbäume bogen sich unter der Last des Schnees. Die Silhouette des Mädchens war verschwommen, teilweise verblasst und kräuselte sich wie Rauchschwaden. So als würde mit jedem weiteren Windstoß ein Stückchen mehr von ihr verschwinden. Seit ich vor ungefähr einem Jahr einen Kunstkurs an der Volkshochschule besucht hatte, war Verloren- und Gebrochensein ein durchgängiges Thema meiner Zeichnungen.
Doch nicht der Kurs selbst hatte mich auf dieses Thema gebracht, sondern eine Unterhaltung, die ich danach mit Trev geführt hatte.
In einer letzten Besprechung hatte der Lehrer gesagt, dass ich zwar ein gewisses Talent besitzen, aber noch nicht mein volles Potenzial ausschöpfen würde; meiner Kunst mangle es noch an Inspiration. Danach war ich ins Labor gegangen, um Luft abzulassen, und wie immer war es Trev gewesen, der mich wieder auf den Boden geholt hatte.
»Ich kapier's einfach nicht«, hatte ich zu ihm gesagt und dabei an der Wand gelehnt, die seine von Cas' Parzelle trennte. »Mangelnde Inspiration.« Ich seufzte. »Was soll das überhaupt heißen?«
Trev kam zu mir und imitierte auf seiner Seite der Scheibe meine gekrümmte Haltung, sodass wir quasi aneinanderlehnten. »Das heißt, dass du nur das zeichnest, was du siehst, und nicht das, was du fühlst.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn an. »In den Bildern, die ich von meiner Mutter gemalt habe, steckt viel Gefühl.«
Seine braunen Augen nahmen einen weichen Ausdruck an. »Aber du kennst deine Mutter nicht. Du weißt über sie nur das, was andere dir erzählt haben. Und dass sie dir fehlt. Was hast du denn für Ziele? Für Hoffnungen? Für Träume? Was begeistert dich?« Er drehte sich so, dass er mir frontal gegenüberstand.
»Dein Lehrer hat dir geraten, ein bisschen mehr in die Tiefe zu gehen.«
Sein Gesichtsausdruck wechselte von offen verständnisvoll zu verhalten, so als wäre sein Schweigen eine Aufforderung. Als würde er absichtlich nicht sagen, was er dachte, weil es mir eine direkte Antwort zu leicht machen würde.
Ich ließ den Hinterkopf gegen die Scheibe sinken und wandte den Blick an die Decke, wo an manchen Stellen die Farbe abgeplatzt war. Trev verpackte seine Ratschläge immer in komplexe, philosophische Zusammenhänge. Nichts war einfach, wenn man es mit Trev zu tun hatte.
Mein Problem war, dass ich noch gar nicht wusste, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Was begeisterte mich? Die Jungs. Das Labor. Dad. Backen. Aber einen Kürbiskuchen zu zeichnen klang verdammt öde.
Die Verwirrung schien mir ins Gesicht geschrieben, denn Trev fuhr nun fort: »Dann fang mit den
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