Escape
du da?«
Ich hielt sie so, dass er sie sehen konnte, und wusste auf einmal nicht mehr, wieso ich überhaupt hergekommen war. »Also, ich... Du hast gar keine Bilder an deinen Wänden.«
Erstaunt hob er eine Augenbraue. »Du bist hier, um über meine nackten Wände zu sprechen?«
»Ja.« Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und schielte zu den Zimmern rechts und links, weil ich damit rechnete, dass die anderen allmählich wach wurden, und gleichzeitig das Gegenteil hoffte. »Wieso hast du gar nichts aufgehängt?«
»Keine Ahnung. Erschien mir unnötig.«
Ich näherte mich ihm langsam. »Wenn du absolut freie Wahl hättest, wohin würdest du reisen?«
Sein Blick wanderte vom Magazin zu meinem Gesicht. »Was soll das?«
»Beantworte doch einfach die Frage.«
Ich wollte alles über Sam wissen. Ich wollte, dass er mir seine Geheimnisse anvertraute. Doch da er sich kaum an die Zeit vor dem Labor erinnern konnte, blieben mir nur solche Fragen.
»Ich glaube, ich mag Wasser.«
»Das Meer?«
»Ob Fluss oder Meer, ist egal.«
Ich hielt die Zeitschrift hoch. Auf der Titelseite war ein Ferienort auf einer Tropeninsel abgebildet. »Was hältst du davon?«
Ich blätterte im Heft, bis ich eine doppelseitige Aufnahme einer Meeresbucht fand. Die riss ich heraus und steckte sie in die Durchreiche. »Für dich.«
»Wozu?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Als Ermutigung.«
Er hielt das Bild hoch und sah es sich genau an. Nach einer qualvoll langen Weile fragte er: »Hast du etwas Klebeband für mich?«
Ich durchstöberte die Schubladen meines Schreibtischs, bis ich endlich eine Rolle fand. Ich legte sie in die Durchreiche.
»Wohin würdest du reisen, wenn du freie Wahl hättest?«, fragte er.
Zwar wollte ich gern neue Orte kennenlernen und erleben, aber welche genau, konnte ich gar nicht sagen. Ich steckte eine Hand in die Hosentasche und dachte an das italienische Dörfchen, das ich vorhin gezeichnet hatte. »Wahrscheinlich nach Europa.«
»Wo sind wir hier eigentlich?«
»Heißt das... Das weißt du gar nicht?« Darüber hatten wir noch nie gesprochen. Ich war davon ausgegangen, dass ihm das bekannt war. »Treger Creek, New York. Ein ganz kleiner Ort, hier kennt jeder jeden.«
»Steht in meinen Akten, woher ich stamme? In welchem Staat ich früher gewohnt habe?«
Verzweifelt versuchte ich, nicht auf seinen nackten Oberkörper zu starren. Aber er war locker fünfzehn Zentimeter größer als ich, weshalb es nicht ganz einfach war, ihm in die Augen zu sehen. »Nicht in denen, die ich bisher gelesen habe. Aber oben sind noch mehr Aktenschränke.«
»Würdest du mal für mich nachschauen? Vielleicht hilft das ja meinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
Im vergangenen Winter hatte ich schon einmal versucht, mir Zugang zu diesen Akten zu verschaffen, doch hatte Dad mich dabei erwischt. Ich hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Nicht mal nach meinem ersten unerlaubten Besuch hier unten im Labor. Seither hatte ich mich nicht noch einmal an die Aktenschränke gewagt.
Doch jetzt war die Ausgangslage eine andere. Zum einen durfte ich mich ja nun im Labor aufhalten, also folgerichtig auch die Akten lesen, fand ich. Und zum anderen... Na, zum anderen bat Sam mich darum.
»Klar.« Ich nickte. »Das kann ich machen.«
»Danke.« Er richtete sich auf, Schultern und Rücken wieder ganz gerade. Keine Spur mehr von der anfänglichen Anspannung.
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich sollte wohl besser gehen. Unsere Schachpartie müssen wir wann anders fortsetzen. Morgen vielleicht?«
»Sicher. Gute Nacht, Anna.«
»Nacht.«
Vor der Automatiktür angelangt, drehte ich mich noch einmal zu ihm um und beobachtete, wie er die Seiten aus der Zeitschrift über seinem Schreibtisch an die Wand klebte. Ich lächelte darüber, wie unbeholfen er bei seiner Entschuldigung gewirkt hatte.
»Ach, übrigens«, sagte ich, bevor ich den Türcode eintippte, »Connor kommt morgen vorbei... nur... damit du Bescheid weißt.«
Sein Gesichtsausdruck verdunkelte sich. »Danke für die Warnung. Ich hasse seine Überraschungsbesuche.«
»Ich auch.«
***
Der Sicherheitscode fürs Labor lautete 17-25-10. Am Siebzehnten war der Geburtstag meiner Mutter gewesen, auf einen Fünfundzwanzigsten fiel der Jahrestag meiner Eltern und die Zehn stand für Oktober, den Monat, in dem sie geheiratet hatten. Dad, immer zuverlässig vorhersehbar, hatte als Code für die Archivschränke 10-17-25 gewählt. Ich brauchte damals bloß vier Anläufe, um
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