Escape
hatte ich mit meinen unschuldigen dreizehn Jahren vor ihm gestanden und auf seine Hände gestarrt, die zu Fäusten geballt neben seinem Körper hingen. Mein Blick war über hervortretende Adern geglitten, die sich dicht und pulsierend über seine Arme zogen. Es schien, als hätte er mich gleich von Anfang an gehasst.
Vielleicht wäre ich nie wieder zu ihnen zurückgekehrt, wäre da nicht auch Sam gewesen.
Sein Anblick, sein neugierig geneigter Kopf, so als würde er gerade meine Gedanken lesen, hatten schon damals ausgereicht, mich vollständig in seinen Bann zu ziehen. Nie hatte ich mich so interessant und besonders gefühlt wie in diesem einen Augenblick.
»Wie heißt du?«, hatte er gefragt und Nick ignoriert.
»Anna. Anna Mason.«
»Anna, ich bin Sam.«
Aus dem benachbarten Zimmer drang Nicks Knurren. Trev lief in seiner Zelle auf und ab. Cas stützte sich gegen die Scheibe, die Fingerspitzen ganz weiß durch den Druck.
Dann rammte Nick eine Faust gegen die Wand, und ich zuckte zusammen.
»Nicholas«, sagte Sam mit messerscharfer Stimme.
Mir war zwar nicht klar, was das bringen sollte, doch Nick nahm sich sofort zurück. Er verschwand in sein Badezimmer im hinteren Teil der Zelle und knallte die Tür hinter sich zu.
Die Jungs wirkten nicht viel älter als sechzehn. Ich fand erst später heraus, dass ihr Alterungsprozess durch die Modifikationen verlangsamt wurde. Damals waren sie in Wirklichkeit um die achtzehn gewesen und in den darauffolgenden Jahren alterten sie äußerlich kaum.
Ich wollte wissen, was sie hier unten machten, wie lange sie schon in diesen Zellen eingesperrt waren. Ich wollte wissen, ob mit ihnen alles in Ordnung war, weil sie sich nicht so verhielten, als wäre alles in Ordnung. Aber meine Gedanken verknoteten sich in meinem Kopf, weshalb ich keine sinnvolle Frage über die Lippen brachte.
»Du solltest besser gehen, Anna«, sagte Sam. »Nick geht's nicht gut.«
»Wenns mir nicht gut geht, helfen mir immer Plätzchen.«
Etwas Bescheuerteres hätte ich kaum sagen können, aber etwas anderes fiel mir damals nicht ein.
Und dann boten mir die Plätzchen einen Vorwand, mich wieder zu ihnen zu schleichen. Nicht mal Nick konnte mich von Sam fernhalten, dem Jungen, der mir das Gefühl gab, mehr zu sein als nur ein kleines Mädchen. Obwohl er es versucht hatte. Nick hatte Dad nach meinem ersten Besuch erzählt, dass ich mir Zugang zum Labor verschafft hatte. Weshalb ich Stubenarrest bekam und ein paar Monate verstreichen lassen musste, bevor ich mich wieder hinunterwagen konnte, ohne Verdacht zu schöpfen.
Nick hatte mich danach nie wieder verraten und ein Teil von mir fragte sich, ob Sam es ihm verboten hatte. Und wenn es so war, bedeutete das etwa, Sam wollte, dass ich zu ihm kam?
Jeden Morgen - und beinahe jede Nacht - war es diese Hoffnung, die mich aus dem Bett trieb und die Stufen hinunterlock-
***
Am nächsten Morgen, während Dad oben ein paar Telefonate erledigte, machte ich mir eine Liste über alles, was ich noch zu tun hatte. Viele Akten ordnen. Ein paar vernichten. Dann einen Intelligenztest mit Sam durchführen. Ich entschloss mich, mit dem letzten Punkt anzufangen. Alles andere konnte erst mal warten.
»Was ist diese Woche dran?«, fragte Sam, als ich mir die Mappe von meinem Schreibtisch schnappte.
Ich sah zu ihm hinüber. Eigentlich kämpfte ich immer um seine Aufmerksamkeit, aber wenn ich sie dann endlich hatte, fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren.
Ich öffnete die Mappe. »Fremdsprache.«
Sam stellte den Stuhl auf seiner Seite vor die Scheibe, ich tat es ihm auf meiner gleich. Dann legte ich mir die Mappe auf den Schoß und holte einen unbenutzten Vordruck heraus. Neben das Logo der Sektion - zwei sich überschneidende Kreise, in deren Mitte sich eine Doppelhelix befand - schrieb ich Sams Namen. Dann: 11. Oktober, 11.26 Uhr.
Im heutigen Aufgabenpaket befand sich eine Reihe von Vokabelkarten. Auf der einen Seite standen italienische Sätze, auf der anderen ihre englische Übersetzung. Da die Jungs unter Amnesie litten, wollte die Sektion austesten, was sie noch lernen konnten beziehungsweise welche Fähigkeiten sie noch aus ihrem früheren Leben besaßen.
Ganz offensichtlich muss Sam ein wahres Sprachgenie gewesen sein, bevor er zum Projekt gestoßen war. Meine Fähigkeiten waren überschaubar. Ich konnte nicht mehr als gut zeichnen und Sudokus lösen.
Ich hielt die erste Karte hoch und Sams Augen bewegten sich über die Wörter. »Ich möchte zum
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