Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
in die Hand zu nehmen pflegen. Ich erinnere mich eines anderen, der, schon als Kind noch, da ihm die Hände fehlten, zwischen Kinn und Hals einen Degen und eine Hellebarde führte, sie in die Luft warf und wieder auffing, einen Dolch warf und mit der Peitsche knallte wie der beste Fuhrmann im Reich. Man entdeckt aber die Wirkung der Gewohnheiten weit besser an den sonderbaren Eindrücken, die sie auf unsere Seele macht, wo sie nicht so viel Widerstand zu überwinden hat. Was vermag sie nicht über unser Urteil und unsern Glauben! Gibt's wohl eine Meinung, die seltsam genug sei – ich spreche nicht von den groben Täuschungen, womit sich große Nationen und sehr klug dünkende Männer haben trunken machen lassen (denn, da dieser Teil außerhalb den Grenzen unserer menschlichen Vernunft liegt, so ist es zu entschuldigen, wenn man sich hier verirrt, insofern einer nicht außerordentlicherweise darin durch göttlichen Beistand erleuchtet worden), sondern von anderen Meinungen nur –, gibt es wohl welche, die seltsam genug gewesen wären, um sich nicht allenthalben, wo man es darauf anlegte, als Gesetz, als Wahrheit festzusetzen und fortzupflanzen? Und ist daher die alte Deklamation sehr gerecht: Non pudet physicum, id est, speculatorem venatoremque naturae, ab animis consuetudine imbutis quaerere testimonium veritatis. 4
Ich bin überzeugt, es falle in die menschliche Einbildung keine so sinnlose Grille, die nicht hier oder dort öffentlich im Schwange gehe und die also gewissermaßen von unserer Vernunft gebilligt und gutgeheißen werde. Es gibt Nationen, bei denen man sich mit dem Rücken gegen denjenigen kehrt, welchen man grüßen will, und den, den man ehren will, niemals ansieht. Es gibt andere, wo, wann der König ausspuckt, die Dame an seinem Hofe, die am meisten seine Gunst hat, ihm ihre Hand vorhält; und noch eine andere Völkerschaft, wo die Vornehmsten, die ihn umgeben, sich zur Erde beugen, um in Leinwand aufzufangen, was er verdaut fallen läßt. Ich bitte hier um Raum, um eine Erzählung einzuschalten!
Ein Französischer vom Adel, der wegen seiner witzigen Ausreden berühmt war, schneuzte sich beständig mit der Faust, eine Gewohnheit, die sich mit unseren Sitten gar nicht verträgt. Dieser, als er sich eines Tages darüber gegen mich rechtfertigen wollte, fragte mich, was für ein Privilegium dieser schmutzige Auswurf hätte, daß wir selbigem ein sauberes Stück Leinwand bereithielten, um ihn aufzufangen und ihn nachher einwickelten und sorgfältig in unseren Taschen aufbewahrten. Das müßte einem Menschen doch mehr Ekel erregen als anzusehen, daß man ihn hinwürfe, wo man Platz dafür fände, wie wir es mit allen übrigen Unreinlichkeiten hielten. Ich fühlte, daß er nichts weniger als unvernünftig sprach und daß nur die Gewohnheit mich das Seltsame im Gebrauch übersehen lassen, welches wir gleich so höchst abscheulich finden, wenn es von fremden Ländern erzählt wird. Die Wunderwerke und Wunderbegebenheiten bestehen in der Unwissenheit, in welcher wir uns über die Natur befinden und nicht in der Natur selbst. Was wir immer vor Augen haben, schläfert unser Urteil ein. Die ungesitteten Nationen wundern sich ebensosehr über uns, als wir uns über sie wundern, und zwar mit ebensoviel Recht, wie ein jeder eingestehen würde, wenn er, nachdem er die Beispiele aus der Fremde durchlaufen hätte, nun auch die einheimischen durchzuprüfen und unparteiisch gegeneinander zu halten verstünde.
Die menschliche Vernunft ist eine Färberlauge, die ungefähr in gleichem Maße allen unseren Meinungen und Sitten beigemischt ist, von welcher Art solche sein mögen. Unendlich in der Materie, unendlich in der Abweichung. Ich nehme den Faden wieder auf. – Es gibt Völker, wo niemand mit dem Könige redet, seine Frau und Kinder ausgenommen, als durch ein Sprachrohr. Eine Nation, wo die Jungfrauen ihre Geburtsteile öffentlich zur Schau tragen, die verheirateten Weiber solche hingegen sorgfältig, bedecken und verbergen. Dahin gehört denn auch die andere mit ihr verwandte Sitte, wobei die Keuschheit nur im Ehestand geschätzt wird, denn die Jungfrauen dürfen sich jedem überlassen, und wenn sie befruchtet sind, dürfen sie nach eigenem Gefallen durch dienliche Mittel die Frucht abtreiben. Und wieder anderwärts werden, wenn derjenige, der eine Frau nimmt, ein Kaufmann ist, alle Kaufleute zur Hochzeit geladen, um vor dem Bräutigam die Braut zu erkennen, und die Braut gewinnt um so mehr Ehre und Ansehen
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