Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
hatte, sie zu bereden, sie möchten ihren Brauch fahrenlassen und dafür den griechischen annehmen, der darin bestand, die Leichen ihrer Väter zu verbrennen, erregte es bei diesen einen noch größeren Greuel. So geht es mit allem! Um so mehr, da uns die tägliche Gewohnheit den wahren Gesichtspunkt der Sachen verbirgt.
Nil adeo magnum, nec tam mirabile quicquam
Principio, quod non minuant mirarier omnes
Paullatim. 5
Als ich einst die Beobachtung gewisser Sitten einführen sollte, die weit und breit um uns her in der Nachbarschaft in voller Achtung standen und doch, wie wohl zu geschehen pflegt, nicht mit bloßer Gewalt der Gesetze oder Beispiele dabei verfahren wollte, so forschte ich sehr emsig nach ihrem ersten Ursprung und fand sie bei diesem Forschen auf so schwachen Gründen, daß sie mich fast anekelten; mich, der ich sie doch anderen anpreisen sollte. Dies Rezept ist es, wodurch Plato sich zutraut, die widernatürliche und heillose Knabenliebe zu verbannen, die er zu seiner Zeit für allgemein und herrschend hält. Nämlich, sie durch die öffentliche Meinung zu verschreien. Die Dichter, und wer sonst noch könnte, sollten schlimme Erzählungen davon machen. Ein Rezept, vermittelst dessen jetzt die lieblichsten Töchter nicht mehr ihre Väter noch die schönst gewachsenen Jünglinge ihre Schwestern zur Liebe reizen. Selbst die Fabeln von Thyest, von Oedip und Makareus hätten, meint er, neben dem Vergnügen an den Versen, dem biegsamen Gehirn der Kinder diesen nützlichen Glauben eingeprägt. Wirklich ist die züchtige Schamhaftigkeit eine schöne Tugend, deren nützlicher Einfluß auf die Sitten anerkannt genug ist. Solche aber nach ihrer natürlichen Beschaffenheit abzuhandeln und anzupreisen, das ist ebenso schwer, als es leicht ist, sie durch eingeführte Gewohnheiten, Gesetze und Vermahnungen im Gange zu erhalten. Die ersten und allgemeinen Grundursachen sind schwer zu entwickeln. Auch fahren unsere Pädagogen ganz leise darüber hin und getrauen sich kaum, sie zu berühren, und stürzen sich um so zuverlässiger auf allgemein bekannte Gewohnheiten; da blähen sie sich dann mit ihrem leichten Sieg. Diejenigen, welche aus diesem seichten Grund des Ursprungs nicht herausgehen, und diejenigen, welche in größere Tiefe gehn wollen, fehlen noch ärger und unterwerfen sich eingebildeten Meinungen. Zum Beispiel Chrysippus, welcher in so häufigen Stellen seiner Schriften äußerte, wie wenig Gewicht er auf blutschänderische Vermischung legte, ohne Rücksicht sogar auf Verhältnisse.
Wer sich von diesem mächtigen Vorurteil der Gewohnheit lossagen will, der wird auf manche Dinge stoßen, die mit unbezweifelbarem Entschluß aufgenommen sind und gleichwohl keine andere Stütze haben als den grauen Bart und die Stirnrunzeln, der Gewohnheit, die sie begleitet. Hat er aber diese Larve abgerissen, indem er jedes Ding auf Wahrheit und Vernunft zurückführt, so wird er sein Urteil wie auf den Kopf gestellt und dennoch viel sicherer und fester befinden. Zum Beispiel, ich würde ihn in jener Lage fragen, was wohl befremdlicher sein könne, als zu sehn, daß ein Volk genötigt sei, sich nach Gesetzen richten zu lassen, die es nicht einmal versteht; das in allen seinen häuslichen Geschäften, Eheverbindungen, Vermächtnissen, Testamenten, Kauf und Verkauf an Vorschriften gebunden ist, die es nicht wissen kann, weil sie in seiner Landessprache weder abgefaßt noch bekanntgemacht worden, und die es also genötigt ist, sich für Geld, um nicht dagegen zu sündigen, bekanntmachen und erklären zu lassen. Nicht etwa nach der scharfsinnigen Meinung des Isokrates, der seinem König den Rat gab, Handel und Gewerbe seinen Untertanen ganz frei zu geben und so einträglich zu machen als möglich; hingegen auf ihre Streitigkeiten starke Lasten zu legen und solche beschwerlich zu machen, sondern nach einer unbegreiflichen Meinung, die Vernunft selbst zu einer verkäuflichen Ware zu machen und die Gesetze zu Artikeln auf der Preiskurrente. Ich weiß es dem Glück viel Dank, welches, wie unsere Geschichtsschreiber sagen, einen gaskognischen Edelmann aus meiner Gegend erweckte, daß er der erste wurde, der sich Karl dem Großen widersetzte, als er uns die römischen, in Latein verfaßten Gesetze geben wollte.
Findet man etwas wilderes als eine Nation, bei der nach wohlhergebrachter Gewohnheit das Richteramt gekauft wird und die Urteile mit barem Geld bezahlt werden und wo es gesetzlich ist, daß demjenigen die
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