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Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel de Montaigne
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immer sein Ansehen über unsere Klugheit behauptet, uns zuweilen in solche dringende Notwendigkeit versetzt, die es unvermeidlich macht, daß die Gesetze einigen Spielraum zulassen müssen; und daß, wenn man einer überhandnehmenden Neuerung widersteht, die sich mit Gewalt uns aufdrängen will, man in allen Stücken und durchaus gegen diejenigen gerade und behutsam verfahren müsse, welche die Gewalt in Händen haben und denen alles das erlaubt ist, was ihr Vorhaben befördern kann; die keine anderen Gesetze oder Verordnungen haben, als ihrem Vorteil nachzujagen. Es wäre eine gefährliche Pflicht und eine große Ungleichheit.
     
    Aditum nocendi perfido praestat fides. 14
     
    Um so mehr, da die gewöhnliche Verfassung eines Staates, in seiner Gesundheit, keine Vorkehrungen gegen solche außerordentliche Zufälle zu machen pflegt. Sie setzt einen Körper voraus, der sich in seinen vornehmsten Gliedern und Wirkungen festhält, und im allgemeinen Einverständnis über Folgsamkeit und Gehorsam. Der gesetzmäßige Gang ist kalt, bedächtig und abgemessen und verträgt sich nicht mit dem ausgelassenen Gang der Zügellosigkeit. Es ist bekannt, wie man den zwei großen Männern, Octavius und Cato, noch jetzt darüber Vorwürfe macht, daß sie in den bürgerlichen Kriegen gegen Sulla und Cäsar ihre Partei lieber die äußerste Gefahr laufen lassen, als solche auf Kosten der Gesetze retten und Änderung in der Staatsverfassung leiden wollen.
    Denn in Wahrheit, in dieser höchsten Not, wo fast nichts mehr zu retten ist, da wäre es doch wohl weiser gehandelt, den Kopf zu bücken und dem Streich ein wenig auszuweichen, als gegen die Unmöglichkeit anrennen, nichts nachgeben wollen und lieber der Gewalttätigkeit Anlaß geben, alles unter die Füße zu treten. Und wäre es doch auch wohl besser, die Gesetze das wollen zu lassen, was sie können, weil sie nicht können, was sie wollen. So machte es jener, welcher befahl, sie sollten vierundzwanzig Stunden schlafen; und jener, der für das Mal einen Tag aus dem Kalender strich und der andere auch, der aus dem Monat Juni den zweiten Mai machte.
    Selbst die Lakedämonier, diese so strengen Bewahrer der Verordnungen ihres Landes, als ihnen das Gesetz, welches verbot, einen und denselben Mann zweimal zum Admiral zu wählen, im Wege stand und auf der andern Seite ihre Lage es als die höchste Notwendigkeit erforderte, daß Lysander diese Stelle abermals bekleidete, so machten sie zwar einen gewissen Arachus zum Admiral, setzten aber Lysander zum Oberaufseher über das Seewesen.
    Mit eben der Gewandheit riet einer ihrer Gesandten bei den Atheniensern (der eine Änderung in gewissen Verordnungen bewirken sollte), dem Perikles, der zur Entschuldigung der Weigerung anführte, es sei im Gesetz verboten, eine Tafel wegzunehmen, worauf ein einmal gegebenes Gesetz geschrieben stände: er solle sie dann nur umwenden, denn das sei nicht verboten. Plutarch lobt am Philopoemen, daß er zum Regieren geboren gewesen und nicht nur nach den Gesetzen, sondern wenn es die Not des Gemeinwesens erfordert, selbst die Gesetze zu regieren verstanden habe.
     
    Fußnoten
     
    1 Sie findet sich bei Stobaeus, serm., der Favorinus nennt. Ferner bei Quintilian, Petronius und Erasmus.
     
    2 Plinius, Nat. hist. XXVI, c. 2: Tägliche Übung ist in allen Dingen der Lehrerinnen beste.
     
    3 Cicero, Tusc. disp. II, 17: Groß ist die Macht der Gewohnheit. Jäger machen ihr Nachtlager im tiefen Schnee und lassen des Tags auf den Gebirgen ihr Antlitz von der Sonne rösten. Der Athlet verzieht keine Miene, wenn ihn der Schweigriemen des Gegners haut.
     
    4 Cicero, De nat. deor. I, 30: Schämt sich der Physikus, das heißt ein Mann, der die Natur erforscht und ihrer Spur nachjagt, schämt er sich nicht, über Wahrheiten, die solche betreffen, Zeugen unter Menschen zu suchen, die nach der Gewohnheit urteilen? – Statt quaerere steht im Original petere.
     
    5 Lucrez II, 1027: Nichts ist anfangs so groß, so wunderbar, daß es nicht mit der Zeit bei jedermann die Bewunderung mindern sollte.
     
    6 Wer denkt hierbei nicht an unsere Verhältnisse!
     
    7 Excerpta ex tragoed. graec. Hug. Grotio interpr. 1626. p. 937: Löblich ist's, daß jedermann den Gesetzen des Landes gehorche.
     
    8 Ovid, Epist. Phyllid. 48: Ach, ich leide von Wunden, die ich mir selbst geschlagen!
     
    9 Terenz, Andr. I, 1, 114: Die Worte lauten wohl.
     
    10 Livius XXXIV, 54: Keine gewaltsame Änderung des Alten verspricht was Besseres.
     
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