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Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)

Titel: Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel de Montaigne
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seinem natürlichen Zustand, in seiner Macht, ein einziges Vergnügen ganz und rein zu genießen! Und dabei gibt er sich noch Mühe, ihrer aus Überlegung zu entbehren! Als ob er noch nicht elend genug wäre, wenn er sein Elend nicht noch durch Kunst und Nachsinnen vermehrte?
     
    Fortunae miseras auximus arte vias. 2
     
    Die menschliche Weisheit gibt sich die dumme Mühe, die Wollust nach Zahl und Süßigkeit zu vermindern, die unser Erbteil ist; eben wie sie sich mit aller Vorliebe beschäftigt, ihre ganze Kunst daran zu verschwenden, die Übel zuzuputzen, zu kämmen und zu schminken, um sie uns weniger scheußlich zu machen. Wäre ich Haupt einer Sekte gewesen, ich hätte einen natürlicheren Weg eingeschlagen, ich will sagen, einen wahreren, bequemeren und heiligeren, und hätte mich vielleicht mächtig genug gemacht, um ihn vorzuschreiben. Obgleich unsre geistlichen und leiblichen Ärzte, nach einem unter sich gemachten Komplotte, keinen Weg zur Genesung finden noch Mittel gegen die Krankheiten der Seele oder des Leibes als durch Qualen, Schmerzen und Leiden. Wachen, Fasten, härne Kleidung, Verbannung in Wüsten und Einsiedeleien, ewige Gefängnisse, Geißeln und andre Büßungen sind des Endes eingeführt; aber unter solchen Umständen, daß es wahre Leiden sein und herbe Bitterkeit bewirken sollen. Wie einem Gallio, von dem man, als er auf die Insel Lesbos ins Elend verwiesen worden, in Rom Nachricht erhielt, daß er sich's dort ganz wohl sein ließe und daß, was man ihm als Strafe auferlegt hätte, zu seiner Bequemlichkeit gedeihe; weswegen man denn einen andern Entschluß faßte und ihm heimzukommen befohlen und bei seiner Frau in seinem Hause zu wohnen, mit dem Beifügen, sich da ruhig zu halten, um ja die Strafe so einzurichten, daß ihn solche schmerzte. Denn für denjenigen, dem das Fasten die Gesundheit stärkte und Heiterkeit gäbe, dem das Gift besser schmeckte und besser bekäme als Fleisch, ruf den wäre es keine heilsame Arznei; sowenig, als in der andern Arzneikunde solche Medizin Wirkung tut, die er mit Vergnügen und Wohlgefallen einnimmt. Bitterkeit und Widerwille sind Umstände, die zur Wirkung behilflich sind. Die Natur, welche den Rhabarber als ein gewöhnliches Nahrungsmittel annähme, würde ihre medizinische Kraft stören. Es muß etwas sein, das unsern Magen angreift, um ihn zu heilen; und hier hinkt die gemeine Regel, daß die Sachen nur durch entgegenstehende Dinge geheilt werden. Denn ein Übel heilt hier das andre.
    Dieser Eindruck bezieht sich auch gewissermaßen auf jene sehr alte Meinung, da man dem Himmel und der Natur sich durch Mord und Totschlag angenehm zu machen dachte; welche Meinung in allen Religionen aufgenommen war. Noch zur Zeit unsrer Väter würgte Amurath, als er den Isthmus eroberte, der Seele seines Vaters sechzehnhundert junge Griechen, damit dies Blut als Reinigungsbad bei der Aussöhnung der Sünden des Verblichenen dienen möchte. Und in diesen neuen Ländern, die man zu unsrer Zeit entdeckt hat, die, in Vergleichung mit den unsrigen, noch rein, unschuldig und jungfräulich sind, ist der Gebrauch so ziemlich allgemein. Alle ihre Götzen schlürfen Menschenblut, und es gibt dort manche Beispiele von Grausamkeit. Man verbrennt die Menschenopfer lebendig, und halb gebraten nimmt man sie vom Kohlenhaufen weg, um ihnen Herz und Eingeweide aus dem Leibe zu reißen. Andre, besonders Weiber, schindet man lebendig, und mit ihrer blutigen Haut bekleidet oder verlarvt man andre. Auch sieht man nicht weniger Beispiele von Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Denn diese armen, zum Opfer erkiesten Menschen, Greise, Weiber, Kinder, gehen einige Tage vorher selbst, herum und betteln die Almosen zusammen, wovon die Kosten bei ihrer Opferung bestritten werden, und beim Schlachtaltar stellen sie sich ein, singend und tanzend mit den übrigen Anwesenden.
    Als die Abgesandten des Königs von Mexiko dem Ferdinand Córtez die Größe ihres Herrn begreiflich machen wollten und ihm bereits erzählt hatten, er habe dreißig Fürsten unter sich, deren jeder hunderttausend Krieger auf die Beine bringen könnte, und daß er in der schönsten und festesten Stadt unterm Himmel seine Wohnung habe, so fügten sie noch hinzu, er habe jährlich fünfzigtausend Menschen den Göttern zu opfern. Man sagt wirklich, dieser König habe mit verschiedenen großen benachbarten Völkerschaften Krieg unterhalten, nicht bloß, um die Jugend des Landes zu üben, sondern vornehmlich deswegen, damit er

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