Essays: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
dienen, so schwächen sie ihre eigene durch die Ansteckung, durch fortwährende Besuche und durch häufigen Umgang mit ihnen." Also ist, nach meiner Meinung, das Resultat einerlei, nämlich: mehr für sich und nach seiner eigenen Gemächlichkeit zu leben. Man sucht aber nicht immer ernsthaft den Weg dahin. Oft meint man den Geschäften entsagt zu haben, und man hat nur damit gewechselt. Es ist nicht viel weniger Last dabei, eine Haushaltung zu regieren als einen ganzen Staat. Womit die Seele einmal beschäftigt ist, daran hängt sie sich ganz; und wenn auch die häuslichen Angelegenheiten minder wichtig sind, so sind sie doch nicht minder lästig. Noch mehr! Wenn wir auch dem Hofe und den öffentlichen Ämtern entsagt haben, so sind wir deswegen doch noch nicht von den vornehmsten Sorgen unsers Lebens entledigt.
Ratio et prudentia curas,
Non locus effusi late maris arbiter aufert. 2
Ehrsucht, Geiz, Unentschlossenheit, Furcht und andre Leidenschaften und Begierden verlassen uns deswegen nicht, weil wir die Gegend verändern!
Et
Post equitem sedet atra cura. 3
Sie folgten uns oft nach bis in die Klausen und in die Schulen der Philosophie. Weder Wüsten noch Höhlen in Felsen, noch härenes Gewand, noch Fasten schützen uns dagegen:
Haeret lateri letalis arundo. 4
Man sagte dem Sokrates, ein gewisser Mensch habe sich auf seinen Reisen um nichts gebessert. "Das glaub' ich wohl," sagte er, "er hatte sich ja selbst mitgenommen."
Quid terras alio calentes
Sole mutamus? Patria quis exsul
Se quoque fugit? 5
Wer nicht zuvor seine Seele und sich selbst von der Last erleichtert, die ihn drückt, dem wird sie durchs Rütteln und Schütteln noch schwerer zu tragen werden, so wie ein Schiff leichter segelt, wenn die Ladung gut gestaut ist. Man tut dem Kranken mehr weh als wohl, wenn man ihn den Ort verändern läßt! Das Übel sackt sich wie Mehl, wenn man es stark rüttelt; und ein Pfahl geht tiefer in die Erde, wenn man ihn dreht und wendet. Deswegen ist es nicht genug, sich vom Volke entfernt zu haben, nicht genug, den Ort zu verändern, man muß sich von der Weise des Volks entfernen; man muß sich selbst zu lösen und zu binden verstehen.
Rupi jam vincula dicas:
Nam luctata canis nodum arripit; attamen illi,
Cum fugit, a collo trahitur pars longa catenae. 6
Wir nehmen unsre Ketten mit uns. Das ist keine völlige Freiheit. Wir sehen zurück nach den Sachen, die wir dahinten lassen; unser Dichten und Trachten ist darauf gerichtet.
Nisi purgatum est pectus, quae proelia nobis
Atque pericula tunc ingratis insinuandum?
Quantae conscindunt hominem cuppedinis acres
Sollicitum curae? quantique perinde timores?
Quidve superbia, spurcitia ac petulantia, quantas
Efficiunt clades? quid luxus desidiesque? 7
Unser Übel liegt in der Seele; die aber kann sich selbst nicht vermeiden:
In culpa est animus, qui se non effugit unquam. 8
Also muß man sie bei uns zu Hause führen und ihr ihre Wohnung heimlich machen. Das ist die wahre Einsamkeit, deren man mitten in Städten und an den Höfen der Könige genießen kann; freilich aber genießt man ihrer für sich allein mit mehr Bequemlichkeit. Da es nun aber unser Vorsatz ist, allein zu leben und der Gesellschaft zu entsagen, so laß es uns auch so anfangen, daß unsre Zufriedenheit nur bei uns stehe. Laß uns auf alle Verbindungen Verzicht tun, welche uns an andre Menschen heften. Wir müssen so viel über uns gewinnen, daß wir mit vollem Wissen und Willen allein leben und daran Behagen finden können. Stilpon war aus der allgemeinen Feuersbrunst seiner Stadt entflohen, worin er Frau, Kinder und Fahr und Habe verloren hatte. Demetrius Poliorcetes, der ihn nach dieser großen Verwüstung seiner Geburtsstadt mit unerschrockenem Gesicht einhergehen sah, fragte ihn, ob er keinen Schaden erlitten. Er antwortete, nein, und habe er, gottlob, nichts von dem Seinigen verloren. Ebenso angenehm hört sich's, was der Philosoph Antisthenes sagte, der Mensch müsse sich mit solchem Vorrat versorgen, welcher auf dem Wasser schwimmen und solchergestalt mit ihm dem Schiffbruche entgehen könnte. Gewiß, der Mensch von Verstand hat nichts verloren, solang er sich selbst besitzt. Als die Barbaren die Stadt Nola verwüsteten, hatte dabei Paulinus, der daselbst Bischof war, alles das Seinige eingebüßt und war obendrein gefangengenommen. Dennoch betete er folgendermaßen: "Behüte mich, lieber Herr Gott, daß ich diesen Verlust nicht
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