Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)
zusammen.
„Dad, du übertreibst maßlos. Ich habe Moms Kreuz schon
vor Wochen verloren und du hast es nicht mal gemerkt.“
Julian zischte ungeduldig.
„Weil ich deine Privatsphäre respektiere! Du weißt,
dass ich niemals deine Gedanken auch nur lesen würde, geschweige denn,
manipulieren. Und ich bin dir nicht feindlich gesonnen, deshalb kann ich dich
immer sehen, ganz egal ob du ein Amulett trägst oder nicht.“ Er wandte sich zum
Gehen. „Falls du das Haus verlässt, tu es auf keinen Fall allein.“
Nika unterdrückte den Impuls, aufzustöhnen. Es war
sinnlos. Julian verstand einfach nicht, dass sie nur ein menschliches Wesen
war, nutzlos und uninteressant für Feinde seines Schlages. Stumm sah sie zu,
wie er mit langen, schnellen Schritten zu der weit geöffneten Flügeltür hetzte.
An der Schwelle stieß er beinahe mit Daniel Miller zusammen, der mit ebenso
langen, ebenso schnellen Schritten aus der Empfangshalle heranstürmte. Beide
prallten zurück, ohne sich berührt zu haben. Sie starrten einander stumm an.
Nika Herz machte einen Satz. Gerade hatte sie nach
ihrem randvollen Kaffeebecher greifen wollen, aber jetzt hielt sie das nicht
mehr für eine gute Idee. Sie zog ihre Hand zurück.
Daniel drehte den Kopf kurz nach ihr um und ihre
Blicke trafen sich für einen Augenblick.
„Guten Morgen, Nika.“
Immer lächelte er nur dieses halbe Lächeln, so als
würde sie umfallen, wenn er es stärker dosierte.
„Hallo Daniel.“
18 Monate, seit sie ihm zum letzten Mal begegnet war.
Und wieder wurden ihre Hände schwitzig, wenn er sie ansah. Obwohl er nie
wirklich hinsah. Er bemerkte höchstens die Anhäufung irritierender Blutwerte,
die irgendwie überlistet und verändert werden mussten, damit Nika endlich
umgewandelt werden konnte. Da sie gerade keine Blutprobe zur Hand hatte, mit
der sie wedeln konnte, erreichte sie seine Aufmerksamkeit selbstverständlich
nicht dauerhaft. Daniel konzentrierte sich auf den Grund seines Besuches; auf
Julian.
„Wir müssen reden“, knirschte er.
Julian zog die Augenbrauen hoch.
„Sieht ganz so aus.“
Es war eher ungewohnt, Daniel so angespannt zu sehen.
Noch ernster als sonst, die Hände tief in den Taschen seiner Jeans vergraben,
stand er stocksteif da.
Hätte er nur wieder ein ganz spektakuläres, neues Gen
entschlüsselt, dann würden seine grauen Augen schimmern wie abgrundtiefe,
silbrige Seen.
„Kaffee?“ Nika zwang sich zu lächeln.
Der innere Aufruhr, die Sehnsucht, die seine bloße
Anwesenheit in ihr verursachte, waren jedes Mal wieder unerträglich.
Letztendlich hatte genau das Nika nach Paris getrieben. Nicht Julians
übertriebene Fürsorge. Nicht diese natürliche Resistenz, die an ihr klebte und
sie zu einem Kuriosum in ihrem natürlichen Lebensraum machte.
Nika versuchte es noch einmal.
„Ein Croissant vielleicht?“
Da war keine Spur von silbrigen Seen, nur eisige
Gletscher. Daniel neigte nicht gerade zu Gefühlsausbrüchen, aber so wie er
ihren Dad anstarrte, ging das bevorstehende Gespräch eindeutig nicht in die
übliche Richtung. Das hier hatte nichts mit Molekularbiologie oder Humangenetik
zu tun.
Julian ignorierte sie völlig, Daniels Blick flog
wenigstens für einen kurzen Augenblick zu ihr zurück.
„Nein, danke, Nika. Ich…“
Er wandte sich wieder Julian zu. Stockte. Und sah dann
noch einmal zu ihr. Er sah sie an. Nicht wie ein Arzt, der das fünfzigste Patientenblatt
des Tages vor sich liegen hatte. Er sah sie an. Richtig.
Scannte er ihre Gedanken? Ihre Gefühle?
Nein. Natürlich nicht.
„Wegen deiner Freundin...“ Daniel brach ab.
„Oh. Du weißt davon?“
„Ja, ich - ja.“
War es nicht seltsam? Kummer hatte Nika von hier
weggetrieben und Kummer hatte sie auch wieder nach Hause zurückgeschwemmt.
Dieser ungewohnt intensive Blick aus seinem plötzlich gar nicht mehr
verbissenen Gesicht vereinte soeben alles und hob dadurch ihre Hilflosigkeit
auf ein ganz neues Level.
Was für ein eigenartiges und unglaublich qualvolles
Gefühl. Nika räusperte sich. Kämpfte die kratzenden Feilen in ihrem Hals
herunter und setzte Tapferkeit auf.
„Schon gut, Daniel, danke.“
Er rührte sich nicht, aber seine grauen Gletscher
schmolzen. Sie fluteten ihren Verstand.
„Tut mir ehrlich leid, Nika. Ich…“ Er presste
tatsächlich die Lippen zusammen und senkte den Kopf.
Seine Anteilnahme schlug wie eine Scud in ihr Gehirn.
Sie verursachte einen vollständigen Systemabsturz.
„Büro!“, blaffte Julian in
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