Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)
verschnaufte kurz und drückte dann gegen die massive Schwingtür
aus Eichenholz. Schloss und Klinke gab es nicht, und wozu auch? Voodoo schützte
die Kapelle und vernichtete jeden, der mit böser Absicht oder mit Waffen
eintrat.
Dieses Haus verdampfte seine Opfer regelrecht, sobald
sie über die Schwelle traten. Dafür hatte Baptiste, oder vielmehr seine
Freundin, die Voodoohexe, gesorgt. Andererseits konnte diese Kirche aber
diejenigen beschützen, die kein Verbrechen planten.
Die Tür glitt auf, sobald Nikas Finger das Holz
berührten. Der einfallende Sonnenstrahl, der gemeinsam mit ihr in die kleine
Halle hereinstolperte, gab für kurze Zeit den Blick auf den breiten Mittelgang
aus Sandstein und flankierende Reihen leerer Holzbänke frei, bevor sich die Tür
mit einem leise saugenden Geräusch hinter Nika schloss. Kerzen flackerten unter
dem Luftzug auf. Wachs tropfte, vielleicht schon seit Stunden, auf den Boden
und bildete vertrocknende Pfützen auf dem blanken Stein.
Erleichtert stellte Nika fest, dass sie nicht ganz
allein war.
Inmitten eines Lichtkegels, der durch ein
Bleiglasfenster in das Halbdunkel des Gebäudes eindrang, rührte sich etwas.
Jemand richtete sich aus einer entspannten, träge fläzenden Haltung von einer
Holzbank auf.
Ein Schauer durchfuhr Nika.
Daniel. Ausgerechnet.
Hatte sie ihn überhaupt schon jemals irgendwo allein
angetroffen?
„Nika.“ Er stand auf und kam ihr entgegen. „Bist du
ohne Begleitung? Wo ist Tess?“
Das hätte Nika auch gern gewusst. Sie senkte den
Blick. Musste sie jetzt wirklich beichten, dass sie wie so oft etwas Dummes
angestellt hatte? Hätte es vom Thema abgelenkt, wenn sie die Stiefel nicht wie
ein Musketier tragen würde, sondern wie Catwoman?
Daniel runzelte die Stirn.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Nein, nicht wirklich. Nika hatte alle möglichen,
sinnfreien Fertigkeiten erlangt, angefangen vom Bogenschießen über Polo, Fechten,
Balletttanzen, Klavier und Geige spielen bis hin zu Poker und Bridge. Sie
wusste, so nannte Julian es, wie man ein Kleid trug und konnte sowohl geistreich
als auch schlagfertig sein. Sie sprach mehrere Sprachen fließend, darunter auch
exotische Dialekte. Aber wenn Daniel sie ansah, fiel ihr nichts mehr ein. Kein
einziges Wort. Und schon gar kein schlagfertiges.
Sie rang sich ein Lächeln ab. Ohne darüber
nachzudenken, trat sie einen Schritt zurück und bereute das augenblicklich, weil
der vergessene Schmerz in ihrem Fuß auflebte und sie zusammenzucken ließ.
Zu ihrem Bedauern bemerkte er es.
„Du bist verletzt“, stellte er fest. „Was ist passiert?“
„Mein Pferd hat mich abgeworfen. Kein Drama.“
„Verstehe.“ Silberseen musterten sie. Prüften ihre
Pupillen. Tasteten in rasender Geschwindigkeit sämtliche mögliche
Verletzungspunkte ab und kehrten dann zu ihrem Gesicht zurück. Check beendet. „Soll
ich es mir ansehen?“
Nika zögerte. Schlagartig wurde der Schmerz völlig
bedeutungslos.
„Setz dich hin, Nik. Bitte.“
Nik.
Wie ein hypnotisiertes Huhn ließ sie sich auf die nächstbeste
Kirchenbank sinken und sah zu, wie er vor ihr auf die Knie ging, um den Stiefel
von ihrem Bein zu ziehen. Dann den Kniestrumpf.
Daniel betrachtete den schon geschwollenen Knöchel
mehr, als dass er ihn berührte. Seine Hand strich mit der Stärke eines
Windhauchs über ihre Haut, beinahe unmerklich.
„Bänderriss“, murmelte Nika. Es wäre nicht der Erste.
„Ja, sieht so aus.“
Ein schmuckloses Salbentiegelchen materialisierte sich
auf dem Boden neben ihm. Daniel schraubte es auf und fing an, eine geruchlose,
gelbliche Paste auf der Schwellung zu verteilen.
Die Millersche Wundersalbe, Nika kannte sie gut. Tess
stellte sie aus einer ganz besonderen, sehr seltenen Pflanze her. Die Salbe
wirkte wie ein Zauberspruch; schnell und umfassend, aber Nika fühlte sich auch
so schon, als hätte man ihr ein wirklich starkes Schmerzmittel verpasst. Daniels
Berührung wirkte wie eine Droge auf sie.
Während er sich auf ihren Knöchel konzentrierte,
betrachtete Nika sein Gesicht. Seine Züge waren vollkommen. Die hohen
Wangenknochen. Die etwas schärferen Konturen seines Unterkiefers, die ihm eine
gewisse Härte verliehen. Sie hätte ihn gern berührt. Wenigstens seine Wange
oder sein surferblondes Haar, das den Anschein erweckte, er würde seine Tage am
Strand verbringen, nicht im Labor. Es war zerzaust, was Daniels sonstige
Makellosigkeit nur noch mehr unterstrich. Diese Makellosigkeit, die
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