Essenz: Band 1 [Das Blut der Götter] (German Edition)
Überlebenden die Toten
geborgen, und erstaunlicherweise waren es weniger, als Nika befürchtet hatte.
Jetzt half sie beim Wiederaufbau. Dabei benutzte sie ihre übernatürlichen
Fähigkeiten natürlich nur dafür, sich eine Aura aus Harmlosigkeit und Hilfe
umzulegen.
„Ich schätze, es gibt ein paar Dinge, die ich dir
nicht länger vorenthalten darf“, begann Julian und setzte sich, ohne Rücksicht
auf den maßgeschneiderten, silbergrauen Anzug seines Mailänder
Lieblingsausstatters, auf einen Haufen matschigen Gerölls. Er schlug sein
rechtes Bein über das Linke, so als würden sie sich zum Teetrinken treffen. Das
Chaos um sie herum interessierte ihn nicht im Geringsten.
„Madeleine nörgelt pausenlos an mir herum, und falls
sie jemals ihre Fähigkeiten erlangt, wird es mit Sicherheit nur noch schlimmer.
Aber andere finden auch, dass es dich angeht, deshalb bin ich hier. Was mich
betrifft, so stoße ich nur ungern das Tor zur Hölle für dich auf, denn du wirst
geradewegs hindurchgaloppieren. Leichtsinn ist ein Wesenszug von dir.“ Für
einen kurzen Moment hielt er die Luft an und musterte Nika. „Folgendes; deine
Essenz stammt von Meejael. Du erinnerst dich an das Miststück, das Daniel
beinahe umgebracht hat. Du weißt schon, als Clare dazwischenging und Daniel
umwandelte, damit er nicht starb.“
Nika öffnete den Mund. Schluckte. Und schüttelte dann
verwirrt den Kopf.
„Was?“ Sie verstand nicht einmal ansatzweise, worum es
ihm ging. „Julian… worauf willst du hinaus?“
„Meejael hat die Essenz nicht aus purer Menschenliebe
rausgerückt. Sie hat einen Preis dafür verlangt.“
Und wieder eine Pause.
Nika atmete durch. Bemerkte, dass ihre Knie weich
wurden. Und ihr Magen schon wieder so flau.
„Was hat sie verlangt?“
Julian senkte die Lider.
Stilles Grauen breitete sich in Nika aus. Es gesellte
sich zu dem Unverdauliche-Watte-Gefühl in ihrem Magen. Er wollte gerne
rebellieren, aber es war nichts da, was Nika hätte auswürgen können. Nicht
einmal Moet.
„Ich habe sie gesehen“, murmelte sie und wischte den
Schlamm von ihren Händen an der Hose ab. „Daniel ist bei ihr.“
Als er immer noch schwieg, setzte Nika sich neben
Julian auf den schmierigen Schutthaufen.
„Sie hat ihn verlangt, oder? Daniel war der Preis für
die Essenz.“
„Ja.“
„Scheiße.“
Nika spürte einen eiskalten Schlag mitten in ihrer
Brust. Als wäre sie von innen heraus mit einem Titanic-großen Eisberg
zusammengestoßen und hätte nur noch ein Ziel: unterzugehen.
Sie war… entsetzt. Und vollkommen gefasst. Sie stand
auf.
„Du hattest Recht, Jewels.“ Und was für ein Höllentor
das war, das er aufgestoßen hatte. „Das kann ich nicht zulassen.“
„Du kannst nichts ändern, Liebes. Sei keine Idiotin
und nimm es hin. Für uns ist er verloren.“
Verloren? Nika musste lachen. Zu laut und zu
hysterisch, aber Julian verzog kein Gesicht.
„Sie hat ihn schon einmal schwer verletzt, Dad. Sie
wird es wieder tun. Und diesmal wird sie es zu Ende bringen.“
„Das wissen wir nicht. Vielleicht hat sie sich geändert.“
„Glaubst du das wirklich?“ Nika spürte, dass ihre
Hände wieder zitterten. „Diesmal wird sie ihn töten. Vielleicht hat sie es
schon gemacht.“
Zum zweiten Mal in ihrem Leben sah sie diesen
Gesichtsausdruck an Julian. Dieses Lächeln, das keines war. Er richtete den
Blick auf den Matsch vor Nikas Füßen.
„Töten klingt so… so human. Nennen wir es lieber zerfleischen,
denndas trifft es viel besser. Zerfleischen. Daniels Blut klebte
überall. Auf dem Bett, an den Wänden, und sogar an mir. Selbst Clare war vom
Kinn bis zu den Zehen voll davon, als sie ihn soweit zusammengepuzzelt hatte,
dass er mit ihrer Engelsessenz überleben konnte.“
Nika starrte Julian an. Wie in Zeitlupe griff er nach
ihrem Arm. So fest, dass es ihr sonst sicher wehgetan hätte, aber in diesem
Augenblick war sie schon vollkommen stumpf vor Angst.
„Dir wird es nicht anders ergehen, du Dummkopf, wenn
du dreist genug bist, ihn zurückzufordern.“
„Ich weiß.“
Nika schälte seine Finger von ihrem Arm. Sie
konzentrierte sich auf das Atmen. Nicht auf die Übelkeit. Nicht auf die Bilder,
die vor ihrem inneren Auge aufflammten. Sie wollte Daniel so nicht sehen.
Zermetzelt von einem Monster, dessen Blut jetzt unauslöschlich ein Teil von
ihr, von Nika, war.
Hoffentlich war es nicht schon zu spät.
Julian scharrte mit den Schuhspitzen im Matsch. Seine
maßgefertigten,
Weitere Kostenlose Bücher