Eugénie Grandet (German Edition)
gedenken Sie Ihrer Sitten, Ihrer Erziehung und Lebensweise, die in keiner Hinsicht mit dem Pariser Leben harmonieren und sicherlich ebensowenig mit meinen Projekten und ferneren Zielen.
Es liegt in meiner Absicht, ein großes Haus zu führen, zahlreiche Besuche zu empfangen, und ich glaube mich zu erinnern, daß Sie ein sanftes, stilles Leben lieben.
Nein, ich will noch offener sein und will Sie zum Richter einsetzen über meine Lage; es gebührt Ihnen, sie kennenzulernen, und Sie haben das Recht, selbst zu urteilen.
Ich habe heute eine Jahresrente von achtzigtausend Livres. Dieses Vermögen gestattet mir, mich mit der Familie d'Aubrion zu verbinden, deren Erbin, ein junges Mädchen von neunzehn Jahren, mir ihren Namen in die Ehe bringt, ferner einen Titel, die Stellung eines Kammerherrn Seiner Majestät und eine der glänzendsten Positionen. Ich bekenne Ihnen, meine liebe Cousine, daß ich Mademoiselle d'Aubrion nicht im geringsten liebe. Aber – durch diese Verbindung sichere ich dereinst meinen Kindern eine soziale Stellung, deren Vorteile eines Tages ganz ungemessen sein werden: von Tag zu Tag finden die monarchischen Ideen mehr Anklang und Verbreitung. Nach einigen Jahren wird also mein Sohn als Marquis d'Aubrion und Herr eines Majorats von achtzigtausend Livres Rente jede ihm beliebige Staatsstellung antreten können. Wir schulden uns unsern Kindern.
Sie sehen, liebe Cousine, wie vertrauensvoll ich Ihnen den Zustand meines Herzens, meiner Hoffnungen, meines Vermögens offenbare. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie Ihrerseits nach sieben Jahren der Trennung unsere Kindereien vergessen haben; aber ich habe weder Ihre Güte noch meine Worte vergessen: ich gedenke ihrer aller, selbst der flüchtig hingeworfenen, deren sich ein weniger gewissenhafter junger Mann mit einem weniger jungen und aufrichtigen Herzen gewiß nicht mehr erinnern würde.
Wenn ich Ihnen sage, daß ich nur eine Konvenienzehe einzugehen gedenke und daß ich mich unserer Jugendliebe gar wohl erinnere, überantworte ich mich also voll und ganz Ihrer Diskretion, mache Sie zur Herrin meines Schicksals und werde, wenn es nötig sein sollte, meinen ehrgeizigen Plänen entsagen und mich willig mit dem schlichten und reinen Glück begnügen, das Sie mir seinerzeit so rührend auszumalen wußten ...‹
›Ta ta ta – ta ta ti – ti ta ta – tü! – Tü ta ti – ti ta ta ...‹ hatte Charles Grandet nach der Melodie von ›Non più andrai‹ gesungen, als er sich unterzeichnete:
›Ihr ergebenster Cousin
Charles.‹
›Donnerwetter! Das nenne ich Lebensart‹, hatte er sich gesagt. Dann hatte er die Anweisung geholt und dem Brief noch folgendes angefügt:
›P. S. Ich füge meinem Brief eine Anweisung auf das Bankhaus des Grassins bei; sie beläuft sich auf achttausend Francs, zahlbar in Gold, und umfaßt Kapital und Zinsen der Summe, die Sie seinerzeit die Güte hatten mir zu leihen. Ich erwarte aus Bordeaux einen Koffer, der einige Gaben enthält, die ich bitte Ihnen als Zeichen meiner ewigen Dankbarkeit anbieten zu dürfen. Mein kleines Necessaire senden Sie mir bitte mit der Post an das Palais d'Aubrion, Rue Hillerin-Bertin.‹ –
»Mit der Post!« sagte Eugénie. »Eine Sache, für die ich tausendmal mein Leben hingegeben hätte!«
Entsetzliche, vollkommene Verzweiflung! Das Schiff barst und sank und ließ auf dem weiten Meer der Hoffnung nicht eine Planke, nicht eine rettende Leine zurück.
Es gibt Frauen, die den treulosen Geliebten den Armen der Rivalin entreißen, die sie töten, – und flüchten ans Ende der Welt, aufs Schafott, ins Grab. Das ist sicherlich schön; der Beweggrund des Verbrechens ist hier eine erhabene Leidenschaft, die der menschlichen Gerechtigkeit spottet. Andere Frauen lassen den Kopf sinken und dulden schweigend; entsagungsvoll erwarten sie den Tod, weinen und verzeihen, beten und leben bis zum letzten Seufzer von der Erinnerung. Das ist die Liebe, die wahre Liebe, die Liebe der Engel, die verzehrende Liebe, die sich von ihren Schmerzen nährt und an ihnen zugrunde geht. Das war die Liebe Eugénies, nachdem sie den entsetzlichen Brief gelesen hatte. Sie erhob den Blick zum Himmel und gedachte der letzten Worte ihrer Mutter, die damals auf dem Totenbett die Zukunft zu durchschauen schien. Eugénie gedachte des Sterbens, des prophetischen Blicks der Mutter und umfaßte mit einem Blick ihr ganzes Schicksal, ihre Bestimmung: sie hatte nur noch die Schwingen zu entfalten, dem Himmel zuzustreben und bis zum
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