Eugénie Grandet (German Edition)
Körper einer Erzählung, eines Romans. Sie sind uns entgegengebracht, wie das Leben selbst uns seinen Gehalt entgegenbringt: in Begegnungen, in Katastrophen, in den Entfaltungen der Leidenschaften, in plötzlichen Aussichten und Einsichten, blitzhaft sich auftuenden Durchschlägen durch den dichten Wald der Erscheinungen. Hier ist zugleich die leidenschaftlichste und vollständigste Malerei des Lebens und eine höchst überraschende, scharfsinnige Philosophie, die bereit ist, jedes noch so niedrig scheinende Phänomen des Lebens zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. So ist durch das ganze große Werk, dessen Weltbild ebenso finster ist als das Shakespeares, und dabei um so viel wuchtender, trüber, schwerer durch seine eigene Masse, dennoch eine geistige Lebendigkeit ergossen, ja eine geistige Heiterkeit, ein tiefes Behagen: wie wäre es anders zu nennen, was uns, wenn einer dieser Bände uns in die Hand gerät, immer wieder nach vorwärts, nach rückwärts blättern macht, nicht lesen, sondern blättern, worin eine subtilere, erinnerungsvolle Liebe liegt, – und was uns die bloße Aufzählung der Titel dieser hundert Bücher oder das Register der Figuren, die in ihnen auftreten, gelegentlich zu einer Art von summarischer Lektüre macht, deren Genuß komplex und heftig ist, wie der eines geliebten Gedichtes?
Die Aufhäufung einer so ungeheuren Masse von substantieller Wahrheit ist nicht möglich ohne Organisation. Die anordnende Kraft ist ebensosehr schöpferische Kraft als die rein hervorbringende. Vielmehr sind sie nur verschiedene Aspekte einer und derselben Kraft. Aus der Wahrheit der Myriaden einzelner Phänomene ergibt sich die Wahrheit der Verhältnisse zwischen ihnen: so ergibt sich eine Welt. Wie bei Goethe fühle ich mich hier in sicherem Bezug zum Gesamten. Ein unsichtbares Koordinatensystem ist da, an dem ich mich orientieren kann. Was immer ich lese, einen der großen Romane, eine der Novellen, eine der phantastisch-philosophischen Rhapsodien, und ob ich mich in die Geheimnisse einer Seele vertiefe, in eine politische Abschweifung, in die Beschreibung einer Kanzlei oder eines Kramladens, niemals falle ich aus diesem Bezug heraus. Ich fühle: um mich ist eine organisierte Welt. Es ist das große Geheimnis, daß diese lückenlos mich umschließende Welt, diese zweite, gedrängtere, eindringlichere Wirklichkeit nicht als eine erdrückende Last wirkt, als ein Alp, atemraubend. Sie wirkt nicht so: sie macht uns nicht stocken und starren, sondern ihr Anblick gießt Feuer in unsere Adern. Denn sie selber stockt nicht, sondern sie ist in Bewegung. Infinitis modis, um das Kunstwort mittelalterlicher Denker zu brauchen, ist sie in Bewegung. Die Welt ist in dieser vollständigsten Vision, die seit Dante in einem Menschenhirn entstand, nicht statisch, sondern dynamisch erfaßt. Alles ist so deutlich gesehen, daß es eine lückenlose Skala ergibt, das ganze Gewebe des Lebens, von Faden zu Faden, ab und auf. Aber alles alles ist in Bewegung gesehen. Nie wurde die uralte Weisheit des Παντα ρει grandioser erfaßt und in Gestalten umgesetzt. Alles ist Übergang. Hier scheint hinter diesen Büchern, deren Gesamtheit neben dem »Don Quixote« die größte epische Konzeption der modernen Welt bildet, die Idee der epischen Kunstform ihre Augen aufzuschlagen. Die Menschen zu schildern, die aufblühen und hinschwinden wie die Blumen der Erde. Nichts anderes tat Homer. Dantes Welt ist starr. Diese Dinge gehen nicht mehr vorüber, aber er selber wandert und geht an ihnen vorüber. Balzac sehen wir nicht. Aber wir sehen mit seinen Augen, wie alles übergeht. Die Reichen werden arm, und die Armen werden reich. Cäsar Birotteau geht nach oben und der Baron Hulot nach unten. Rubemprés Seele war wie eine unberührte Frucht, und vor unseren Augen verwandelt sie sich, und wir sehen ihn nach dem Strick greifen und seinem befleckten Leben ein Ende machen. Seraphita windet sich los und entschwebt zum Himmel. Jeder ist nicht, was er war, und wird, was er nicht ist. Hier sind wir so tief im Kern der epischen Weltanschauung, als wir bei Shakespeare im Kern der dramatischen sind. Alles ist fließend, alles ist auf dem Wege. Das Geld ist nur das genial erfaßte Symbol dieser infinitis modis vor sich gehenden Bewegung und zugleich ihr Vehikel. Durch das Geld kommt alles zu allem. Und es ist das Wesen der Welt, in dieser grandiosen und epischen Weise gesehen, daß alles zu allem kommt. Es sind überall Übergänge, und nichts als
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