Eugénie Grandet (German Edition)
ungeheure Welt, aufgebaut aus unserem Leben, dem Leben der Begierden, der Selbstsucht, der Irrtümer, der Grotesken, erhabenen und lächerlichen Leidenschaften, diese Welt, in deren Gemenge die Begriffe »Komödie« und »Tragödie« ebenso aufgelöst sind wie »Tugend« und »Laster«, diese Welt ist im Tiefsten ganz Bewegung, ganz Drang, ganz Liebe, ganz Mysterium. Dieser scheinbare Materialist ist ein leidenschaftlicher Ahnender, ein Ekstatiker. Die Essenz seiner Figuren ist Aspiration. Alle Dulderkräfte, Liebeskräfte, Künstleranspannungen, Monomanien, diese Titanenkräfte, die großen Motoren seiner Welt, sind Aspiration: alle zielen sie auf ein Höchstes, Unnennbares. Vautrin, das Genie als Verbrecher, und Stenbock, das Genie als Künstler, Goriot der Vater, Eugénie Grandet die Jungfrau, Frenhofer der Schöpfer, alle sind sie eingestellt auf ein Absolutes, das sich offenbaren wird, wie die vom nächtlichen Sturm umhergeworfenen Schiffe eingestellt sind auf das Dasein des Polarsternes, wenngleich Finsternis ihn verhüllt. In den Tiefen ihres Zynismus, in den Wirbeln ihrer Qualen, in den Abgründen der Entsagung suchen und finden sie Gott, ob sie ihn beim Namen nennen oder nicht.
Alle diese so körperhaften Figuren sind doch nichts als vorübergehende Verkörperungen einer namenlosen Kraft. Durch diese unendlichen Relativitäten bricht ein Absolutes; aus diesen Menschen blicken Engel und Dämonen. Jede Mythologie, selbst die letzte, zäheste, die der Worte, ist hier aufgelöst: aber eine neue, geheimnisvolle, höchst persönliche ist an die Stelle dieser anderen getreten. Ihre Konzeption ist großartig und in einer solchen Weise bestimmt und doch vag, daß Hunderttausende sie annehmen und sich aus ihr etwas wie den Mythos des modernen Lebens machen können. Alle diese Gestalten, die sich der Phantasie so sehr als »wirkliche« aufdrängen, erscheinen unter einem gewissen geisterhaften Licht, das von den Gipfeln dieses Werkes herabfällt, als gute und böse Genien, Wesen, in denen die irdischen Triebe vorübergehend inkarniert sind. Aber nichts an dieser Konzeption ist schematisch. Hier sind keine Dogmen statuiert, sondern Visionen. Taine, der genau vor einem halben Jahrhundert seinen großen Essay über Balzac schrieb, legt an diese Intuitionen, diese schwebenden Wahrheiten, die alle nur für einen Augenblick wahr sind und nur an der eine Stelle, wo sie stehen, einen Maßstab, den sie nicht vertragen. Einem Dichter kann man nichts einzelnes entwinden. Alles, was innerhalb einer Welt Wahrheit ist, ja mehr als Wahrheit – schrankenlose Ahnung –, wird eine mißgeborene Phantasmagorie, wenn man es aus dem Zusammenhang herausreißt. Es handelt sich um Formen des Sehens. Der Denker sieht Prinzipien, Abstraktionen, Formeln, wo der Dichter die Gestalt erblickt, den Menschen, den Dämon.
Immerhin ist hier, auch mit kaltem Blick betrachtet, die ungeheuerste Synthese vollzogen. Hier begegnet sich wirklich Novalis, der Magier, mit den titanischen Anfängen eines wahren Naturalismus; hier ist die Verbindung zwischen Swedenborg und Goethe oder Lamarck. Hier ist, in gemessenem Sinn, das letzte Wort des Katholizismus, und zugleich dringt die Ahnung der Entdeckungen Robert Mayers sternenhaft aus dem Nebel. Die Gewalt, die noch mehr als eine Generation unterjochen wird, liegt in der wundervollen Durchdringung dessen, was die Wirklichkeit des Lebens ist, der vraie vérité, bis herab zu den trivialsten Miseren des Lebens, mit Geist. Die Geistigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, diese ganz ungeheure synthetische Geistigkeit, ist hier in die Materie des Lebens hineingepreßt wie ein alle Fasern durchdringender, glühender Dampf. Wo die Niederschläge dieses Dampfes sich stark und deutlich kristallisieren, wie in dem »Louis Lambert«, in der »Recherche de l'absolu«, im »Chef d'œuvre inconnu«, dort ergeben sich Ketten von Gedanken, Ahnungen, Aphorismen, die sich mit nichts vergleichen lassen als mit den »Fragmenten« des Novalis. Aber diese Kristallisationen, die bei Novalis fast alles sind, was uns in den Händen geblieben ist, sind hier nur ein Nebenprodukt dieser geistig-organischen Vorgänge. Viel bewundernswerter noch ist das Phänomen, welches sich ergibt, wenn die eingepreßte Gewalt dieser Geistigkeit die lebende Materie vorwärts treibt, wenn Figuren entstehen, deren Getriebenheit uns das Walten des Geistigen mitten im Herzen des Lebens spüren läßt: so ist Claes, der rastlose Sucher des Unbedingten, so ist
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