Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
ganzen Straße verteilt. Vorsichtig stieg ich darüber hinweg, stets darauf bedacht, in keine Scherben zu treten, die sich durch meine löchrigen Sohlen hätten bohren können.
Bleib ruhig, Elisabeth! Ganz ruhig! Alles ist in Ordnung, redete ich mir ein.
Immer wieder stieß ich auf Hindernisse und stolperte über umherliegende Trümmer. Bäume und zerrissene Drähte blockierten die Straßen. Mein Verstand hätte mich längst zurück zum Haus in die Strehlener Straße 12 geschickt, aber dieser hatte mich bereits verlassen. Ich hatte nur noch einen Gedanken: Samuel.
Auf halber Strecke zuckte ich unwillkürlich zusammen. Zwei patrouillierende Soldaten, mit umgeschnallten Gewehren, kamen mir entgegen. Bitte, lieber Gott, lass sie weitergehen, flehte ich. Sie kamen näher und musterten mich von oben bis unten, in ihren furchteinflößenden feldgrauen Uniformen, die am linken Ärmel schwarze Binden mit einem Hakenkreuz zierten. Die NS-Männer stellten sich mir in den Weg und sprachen mich an: »Guten Morgen das Fräulein, wo soll es denn so früh hingehen?«, fragte mich der kleinere von Beiden, während er mich mit zusammengekniffenen Augen prüfend ansah.
»Guten Morgen, die Herren. Ich … ich bin auf dem Weg zum Schulgebäude am Lukasplatz.« Eingeschüchtert blickte ich geradewegs auf die schweren, schwarzen Lederstiefel der Soldaten hinab, krampfte meine Hand um den Griff vom Geigenkasten und kämpfte gegen die ansteigende Panik.
»Zum Schulgebäude also. Und was gibt es dort Dringendes nach dieser Nacht?« Der größere Soldat betrachtete mich argwöhnisch.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und blickte dem pausbackigenMann direkt in die Augen. »Es gibt dort Unterricht … für … für mich und ein paar Kameraden. Ich wollte nachsehen, ob das Lyzeum noch steht.«
Die beiden Soldaten sahen sich verwundert an, als hätten sie mich nicht richtig verstanden. Der kleinere Soldat legte den Kopf schief und dachte anscheinend darüber nach, ob ich geisteskrank wäre.
Der größere reagierte zuerst. »Das Schulgebäude ist noch vorhanden, Fräulein. Aber Sie sollten sich nach der Bombardierung vielleicht um andere Dinge sorgen, als um den Unterricht. Es ist gefährlich für eine junge Dame, alleine durch die Straßen zu spazieren. Außerdem liegen Trümmer herum, und viele Straßen sind durch die Bombardierungen nicht mehr passierbar. Seien Sie vorsichtig. Niemand weiß, wann die nächsten feindlichen Tiefflieger angreifen werden.«
Er wechselte einen kurzen Blick mit seinem Begleiter. »Die Dame …« Er tippte zum Gruße an seine Mütze und beide setzten ihren Weg fort.
»Danke«, presste ich heraus, und die Anspannung fiel augenblicklich von mir ab. Die Schule ist nicht zerbombt, sie steht noch, jubelte ich in Gedanken. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich fiel vor Erleichterung in einen zügigen Laufschritt. Das freigesetzte Glücksgefühl blendete die schwarzen Gemäuer um mich herum aus. Als ich die Straße zum Lukasplatz erreichte, spürte ich eine Welle der Erleichterung. In der Ferne erhob sich der eindrucksvolle Umriss des Schulgebäudes. Das zweistöckige Lyzeum stand direkt neben der Lukaskirche, die mit ihrem Glockenturm die Schule deutlich überragte. Es schien, als hielte das Gotteshaus schützend die Hände über die Schule. Die umliegenden Häuser waren stark beschädigt. Die großen Löcher in den Wänden der Westseiten ließen keinen Zweifel daran, dass sie jeden Moment einstürzen könnten. Mein Blick fiel auf das Zifferblatt der Turmuhr. Die goldenen Zeiger zeigten auf 7:26 Uhr. Das Uhrwerk funktionierte.
Ich lief weiter und näherte mich dem Portal. Sieben Steinstufen führten zum Eingang. Sie waren unbeschädigt. Ich blickte hinauf und stellte enttäuscht fest, dass die Schule verlassen war. Ich zögerte. Sollte ich umkehren? Umkehren in den Keller, in demmeine Familie mein Fehlen ganz bestimmt schon bemerkt hatte? Das hieße, Dresden zu verlassen und Samuel nie wiederzusehen. Nein, so leicht gab ich nicht auf! Ich presste meine Lippen zusammen und stieg entschlossen nach oben, setzte mich auf die oberste Stufe und stellte den Geigenkasten rechts von mir ab. Von hier war die Straße überschaubar und keine Bewegung konnte mir entgehen. Die Minuten dehnten sich wie Stunden. Meine Augen suchten die Straße ab, spähten nach links und rechts, ohne eine Menschenseele zu sehen. Erneut schaute ich auf die Turmuhr. 7:43 Uhr. Mir wurde kalt. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und zog
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