Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
war nach unseren Großvätern Heinz und Niklas benannt und ich nach den Großmüttern Maria und Helene. Unsere Eltern und ein paar Lehrer von unserer Schule waren die Einzigen, die uns so nannten. Für den Rest waren wir Nik und Mae. In der achten Klasse übersprang mein Bruder eine Stufe, da er trotz seiner Faulheit einen Notendurchschnitt von 1,2 hatte. Die Lehrer befürchteten, er könnte durch die permanente Unterforderung in seinen schulischen Leistungen abfallen. Nik setzte seinen 1,2er Schnitt in der höheren Stufe konsequent fort, ohne dass er einen Finger rührte. Seitdem ließen ihn die Lehrer zufrieden.
Und als wäre es noch nicht genug, einen schulischen Überflieger als Zwillingsbruder zu haben, sah er dazu auch noch überdurchschnittlich gut aus, sodass er an jedem Abend in der Woche mit einem anderen Mädel hätte ausgehen können. Meine Freundin Adriana war seit zwei Jahren mehr oder weniger heimlich in ihn verliebt und benutzte ihren jüngeren Bruder Fabio gerne als Alibi, um bei den Proben der Punkrockband »The Dead Mannequins« dabei zu sein, in der Nik Schlagzeug und ihr Bruder Bass spielten.
Nebenher sei erwähnt, dass er natürlich auch ein sportliches Ass war und die Position des Kapitäns in der Handballmannschaft nur abgelehnt hatte, um mehr Zeit für seine Band zu haben.
Im Gegensatz zu ihm war ich eher unauffällig. Ich war durchschnittlich groß, hatte eine normale Figur und trug mein langes braunes Haar meistens zu einem praktischen Zopf zusammengebunden. In der Schule fiel ich nicht durch überdurchschnittliche Noten auf und verfügte auch über keine herausragenden sportlichen Qualitäten.
Zum 18. Geburtstag hatten wir beide einen Sparvertrag von unseren Großeltern geschenkt bekommen. Oma Helene hatteuns die Umschläge mit den nachdrücklichen Worten »Damit ihr Geld für euer Studium habt«, in die Hände gedrückt.
Doch mit den Plänen meines Bruders hatte sie nicht gerechnet. Nik fand noch in der gleichen Woche
Sid
bei ebay und investierte auf einen Schlag sein gesamtes Studiengeld.
Sid
war sein roter Mustang Fastback, Baujahr 1965. Meine Eltern flippten aus, als sie davon erfuhren.
»Und wie willst du dein Studium finanzieren? Willst du nebenher als Kellner jobben und dann mit fünfunddreißig fertig werden?«, hatte mein Vater getobt und meiner Mutter hilflose Blicke zugeworfen.
Beschwichtigend hatte mein Bruder gemeint: »Paps, jetzt entspann dich mal. Ich krieg mit meinen Noten doch eh ein Stipendium.«
So gegensätzlich wir waren, so sehr liebte ich meinen Bruder und er mich. Wir waren irgendwie seelisch miteinander verbunden und Nik sagte einmal »Wir können ohne Telefon miteinander telefonieren.« Das meinte er an dem Tag zu mir, als ich zwischen Wiesen und Feldern mit meinem Fahrrad eine Reifenpanne hatte. Ich hatte meinen Augen nicht getraut, als
Sid
auf mich zugerollt kam und wenige Augenblicke später neben mir anhielt. Mein Bruder hatte das Fenster heruntergekurbelt, grinste schief und bemerkt »Wusste ich es doch!«
Vor dem Auto stolperte ich über einen Ast, der auf dem matschigen Weg lag. Ich kickte ihn mit meinem Turnschuh zur Seite und stieg ein. Im Auto roch es leicht nach Öl.
»Na Schwesterchen, alles fit for fun?«, feixte Nik, während ich mich in die braunen Polster sinken ließ.
Ich verdrehte die Augen. Den Spruch hatte er seit ein paar Wochen in seinem Sortiment und wurde nicht müde, damit seine Umgebung zu nerven.
»Du solltest besser mal den Motor starten, als hier blöde Sprüche zu klopfen.« Ich kramte in meiner Tasche nach meinem Erdbeer-Lipgloss.
»Guck mal auf die Uhr. Wir sind spät dran.« Grinsend startete er den Motor und fügte hinzu: »Du hast übrigens rote Flecken im Gesicht. Ist das jetzt
in
?«
Das Gymnasium war nicht weit entfernt. Wir fuhren eine Straße entlang, die sich durch saftig grüne Weideflächen schlängelte, auf denen Schafe friedlich grasten und die schließlich in eine Allee mündete, die von knorrigen alten Ulmen gesäumt war. Auf dem Schulparkplatz war nichts mehr frei, sodass wir
Sid
in einer Nebenstraße parkten. Im flotten Laufschritt ging es über die Straße, direkt auf das Gymnasium zu.
Das Schulgebäude bestach nicht durch seine imposante Bauweise. Im Gegenteil! Es war eigentlich mehr ein Klotz als ein Haus. Ein eingeschossiges Gebäude mit Flachdach, wie es in den 60er Jahren mal schick gewesen war. Dort stand Adriana. Die kleine zierliche Italienerin lehnte an einer Säule, wie immer perfekt
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