Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
die Knie an die Brust. Mein Magen knurrte, aber daran war ich bereits gewöhnt. In den letzten Wochen hatte es nur unregelmäßige Mahlzeiten gegeben.
Plötzlich nahm ich aus meinem linken Augenwinkel eine Regung wahr. Eine Einbildung? Ein erster Sonnenstrahl erhellte den tristen Tag. Ich blinzelte, konnte aber nicht erkennen, ob die Bewegung wirklich war oder ich sie mir eingebildet hatte. Ich stand auf und hielt die Hände wie einen Schirm über meine Augen. Da war die Bewegung wieder. Im Wind wehte eine Reichsflagge, die durch eine Fahnenhalterung an einem Haus befestigt war. Die rote Fahne, in der Mitte eine runde weiße Fläche und darin das schwarze Hakenkreuz, flatterte nun deutlich erkennbar. Tief enttäuscht ließ ich die Hände sinken. Den aufkommenden Wind hatte ich nicht bemerkt. Ich setzte mich wieder, zog die Knie erneut an den Körper und umschlang sie. Meinen Kopf legte ich auf die Knie und schloss die Augen. Die aufkommende Müdigkeit fühlte sich schwer an. Ich durfte jetzt nicht einschlafen. Meine Gedanken wanderten zu Samuel.
Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich schlug die Augen auf und blickte in die Richtung, aus der es zu kommen schien. Eine Gestalt lief die Straße entlang. Ich stand auf und starrte mit wild pochenden Herzen, angestrengt zu dem Jemand, der auf mich zulief. Mein Herzschlag setzte für einen kurzen Moment aus, und ich unterdrückte einen Schrei. Da war er! Keine fünfzig Meter von mir entfernt. Er ging geradewegs auf das Portal zu. Samuel trug seinen blauen Seemannspullover, eine graue Wolljacke, dunkle Hosen und auf dem Kopf saß eine Schiebermütze, unter der seitlich sein hellblondes Haar erkennbar war. Unter dem rechtenArm klemmte seine Zeichenmappe. Mir stockte vor Freude der Atem. Er lebte! Vor Erleichterung wäre ich fast nach vorne gefallen. Alles schien sich zu drehen. Ich wickelte hektisch den braunen Schal von meinem Hals und winkte ihm zu. »Samuel!«, schrie ich. »Samuel ich bin hier!«
Nun hatte er mich entdeckt und erwiderte stürmisch mein Winken.
»Elisabeth!«, rief er, während er auf mich zu rannte. Sein Gesicht war gerötet und die Schiebermütze saß nun schief auf seinem Haar.
Ich weinte vor Erleichterung, als er das Portal erreichte und die Treppen zu mir hinaufstürzte. Samuel fiel so stürmisch in meine Arme, dass es mir den Atem verschlug. Er presste mich fest an sich.
»Samuel!«, krächzte ich unter Tränen. »Ich wusste, dass du herkommen würdest!« Das intensive, befreiende Gefühl schmerzte in meinem Herzen. Samuel lebte und hielt mich in den Armen! Jetzt würde alles gut werden.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Die ganze Nacht habe ich mir die schlimmsten Gedanken gemacht«, keuchte er erleichtert in mein Ohr. Er schaute mich an. »Dir geht es doch gut, oder?«, fragte er verunsichert, als er meine Tränen bemerkte.
»Ja, mir geht es gut. Mir geht es sogar sehr gut, jetzt, wo du hier bist«, flüsterte ich, weil meine Stimme sonst versagt hätte. »Jetzt, wo ich dich sehe, erscheint alles nicht mehr so schlimm. Die letzte Nacht war grauenvoll, aber so schrecklich die Dinge sind, umso schöner ist jetzt dieser Moment, in dem wir uns haben.«
»Und dieser Moment wird bleiben.« Er nahm mein Gesicht sanft zwischen seine Hände und fuhr ernst und eindringlich fort: »Ich lasse dich nicht mehr alleine. Ich werde dich immer beschützen.«
»Versprichst du es mir?«, fragte ich mit einem Kloß im Hals. Samuels smaragdgrüne Augen blickten mich durchdringend an.
»Ich verspreche es«, sagte er. »Und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde.«
Er beugte sich zu mir, und ich spürte den sanften Druck seiner Lippen auf meinen. Seine Liebe umgab mich, erhellte und erwärmte diesen Moment wie ein Sommertag. Alle Zweifel undÄngste waren verflogen. Es gab keine Furcht mehr. Ich gehörte zu Samuel und er zu mir. Unsere Leben waren auf immer miteinander verbunden.
Ich weiß nicht, wie lange dieser Kuss andauerte, als plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir erklang. »Guten Morgen!«
Erschrocken wichen wir auseinander. Im Schuleingang stand Herr Doktor Drachenberg. Wie immer tadellos gekleidet in einem dunkelblauen Anzug und sauberen Schuhen, als ob es den Krieg nicht geben würde. Aus seiner Westentasche hing die goldene Kette seiner Taschenuhr.
»Guten Morgen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich außer uns noch jemand hier befindet.«
Er lächelte. »Ich war die ganze Nacht hier. Irgendwie bin ich gestern nicht dazu
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