Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht

Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht

Titel: Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Kay
Vom Netzwerk:
gekommen, nach Hause zu gehen, was sich letztendlich als Glück erwiesen hat. Nun kommen Sie erst einmal herein. Nach dieser Nacht sollten wir nicht länger draußen sein als notwendig.« Er forderte uns mit einer bestimmten Handbewegung auf, zu folgen, die keine Widerrede zuließ. Trotz seiner Autorität mochte ich ihn sehr. Er war humorvoll, gerecht und hatte in gewisser Weise Ähnlichkeit mit meinem Vater. Bevor ich das Schulgebäude betrat, schaute ich noch einmal zu der Turmuhr. Es war jetzt genau 8:04 Uhr.
    Wir folgten Doktor Drachenberg in das Innere der Schule. Im Eingangsbereich gab es eine kleine Halle, von der aus nach links und rechts Flure zu den Klassenräumen führten, sowie die große dunkle Holztreppe, über die die höheren Geschosse erreicht wurden. Jedes Mal aufs Neue bewunderte ich die kunstvoll verzierten Fliesen auf dem Fußboden und den schönen hellen Putz an den Wänden. Heute fielen mir einige Risse in den Fliesen auf, und es gab auch Stellen, an denen sich der Putz von der Wand gelöst hatte.
    »Hier herein, bitte.« Mein Lehrer deutete auf einen Klassenraum. Darin befanden sich links und rechts jeweils sechs Reihen heller, durchgängiger Bänke aus Buchenholz, in denen sonst vier Schüler pro Reihe saßen. Dazwischen war der Mittelgang. Vor den Bänken stand auf einer Erhebung das Lehrerpult, dahinter hing eine dunkle Tafel. Es roch nach Kreide. Wir setzten uns in eine der vorderen Bänke.
    »Ich bin froh, dass Sie beide hier sind. Wie geht es Ihnen nach dieser Nacht?« Besorgt schaute er uns an.
    Ich sah zu Samuel. Er zögerte einen Moment, bevor er sprach, wobei er seinen Blick auf die Zeichenmappe senkte. »Ich denke, wir sollten uns nicht beklagen. Viele Menschen hatten nicht so viel Glück wie wir. Ich war zu dem Zeitpunkt des Angriffes mit meinen Eltern im Wald.« Er lächelte kurz und zeigte dabei seine Wangengrübchen.
    Ich schaute ihn überrascht an. »Warum wart ihr im Wald?«
    »Als ich gestern am frühen Abend heimkam, hörten meine Eltern über den Volksempfänger heimlich das deutsche Programm aus London. Der Rundfunksprecher kündigte die Angriffe an«, erklärte er. »Wir sind dann fluchtartig in den Wald gelaufen.«
    »Ich war mit meiner Familie im Keller. Wieso seid ihr nicht in euren gegangen?«
    Samuel schüttelte den Kopf. »Weil unser Keller keinen ausreichenden Schutz vor den Bomben bietet. Im Wald haben wir uns in Splitterschutzgräben gesetzt.«
    »Splitterschutzgräben?«
    »Das sind große Gräben im Sandboden. Sie werden zu ebener Erde mit Holzstämmen abgedeckt, und darauf wird ein Sandhaufen geschüttet. Als der Luftangriff auf Dresden niederging, saßen wir eng aneinandergepresst in den Gräben. Von weitem konnten wir sehen, wie die Bomben einschlugen. Bei jeder Explosion rieselte etwas Sand auf unsere Köpfe …« Seine Stimme brach weg, und er hielt die Hände zu Fäusten geballt. Samuel schaute abwesend auf einen Punkt an der Wand und rang um Fassung. »Unser Haus in der Viktoriastraße gibt es bestimmt nicht mehr.« Samuels Blick verfinsterte sich.
    Mein Lehrer schüttelte den Kopf, als ob er die Vorstellung aus seinem Kopf vertreiben wollte. »Da wirst du vermutlich richtig liegen. Ich konnte nur ein brennendes Meer aus Schutt und Asche aus der Ferne erkennen.«
    »Was ist wohl aus den anderen geworden?« Ich hatte erneut einen Kloß im Hals. »Sie wohnten doch alle viel näher im Stadtzentrum …« Weiter konnte ich nicht sprechen. Ich dachte an meine Familie. Meine Familie, die im Keller in der Strehlener Straße 12 saß und wahrscheinlich schon krank vor Sorge war. Ich musstees Samuel jetzt sagen. Es wurde Zeit, dass er von dem Fluchtplan erfuhr und wir endlich diese Stadt verließen. Ich schluckte, holte tief Luft und setzte mit fester Stimme an: »Mein Vater möchte heute früh …«. Weiter kam ich nicht. In diesem Moment ertönten die Sirenen. Fliegeralarm!
    Mitten am Tage!
    Mir wurde es gleichzeitig heiß und kalt, ich erlitt einen Sekundenschock, der es mir nicht ermöglichte, mich zu bewegen.
    »Wir müssen hier raus! Sofort! Die Schule hat keinen Keller!«, rief mein Lehrer.
    Ich bemerkte, wie ich an den Armen hochgezogen wurde, mechanisch nach meinem Geigenkasten griff und meine Beine von selbst anfingen zu laufen. Mein Lehrer rannte direkt auf den Ausgang zu. Wir folgten ihm, Samuel hielt mich an der rechten Hand, in der anderen seine Zeichenmappe. Als wir aus dem Gebäude stürmten und die Treppen hinunterliefen, drehte sich mein Lehrer um

Weitere Kostenlose Bücher