Europa-Handbuch - Europa-Handbuch
Dienstleistungssektor und einen Rückgang in den Bereichen Industrie und Landwirtschaft. Produzierte der private Sektor noch 1990 zirka 20 Prozent des BIP, die Industrie 40 Prozent und die Landwirtschaft 20 Prozent, so hatte neun Jahre später der private Sektor mit 70 Prozent die Führung übernommen. Der Bausektor hatte fast 5 Prozent erreicht, während die Industrie auf unter 20 Prozent und die Landwirtschaft
auf zirka 4 Prozent gesunken war. Die Entwicklung der Bereiche Informationstechnologie, Banken und Finanzen ist besonders vielversprechend. Estlands Selbstverpflichtung, Reformen und Innovationen zu fördern, hat ausländische Investitionen begünstigt. Das meiste Geld kam aus Finnland und Schweden. 1992 wollte Laar Estland zu einem voll wettbewerbsfähigen Wirtschaftspartner des Westens machen und Estlands Abhängigkeit von Russland beenden. Im Juni 1994 war Russlands Anteil am Außenhandel Estlands auf 20 Prozent zurückgegangen, wogegen er 1991 noch bei fast 95 Prozent lag. 1998 gingen 13 Prozent der Ausfuhren Estlands nach Russland, während 9 Prozent seiner Einfuhren von dort kamen. Obwohl Estland nicht mehr abhängig von Russland ist, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Estland von Handelsverbindungen mit Russland und der GUS profitieren kann, insbesondere beim Transit und der Lagerung von Gütern. Risiken bleiben jedoch bestehen.
Die Nachbeben der russischen Finanzkrise im August 1998 waren der Hauptgrund für den Rückgang des BIP 1999 um 0,6 Prozent im Vergleich zum BIP von 1998. Im Jahr 2000 erhöhte sich das BIP um 7,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Im Jahr 2002 waren die EU-Länder – insbesondere Finnland, Schweden und Deutschland – die Haupthandelspartner Estlands. Mehr als 70 Prozent der estnischen Im- und Exporte wurden mit der EU abgewickelt. Das besondere Verhältnis zwischen Tallinn und Helsinki spiegelt sich auch im Handelssektor wider. Finnland ist Estlands wichtigster Handelspartner.
Estland hat seine Rezession hinter sich gelassen. Seit 1997 hat sich das Land von einer kommunistischen Planwirtschaft zu einer freien Marktwirtschaft entwickelt. In der Zeit zwischen 2000 und 2003 konnte ein beständiges Wachstum verzeichnet werden, das sich nicht nur auf der makroökonomischen Ebene, sondern langsam auch auf der Ebene der Bevölkerung auswirkt.
2.4 Soziale Fragen
Die tiefgreifenden Veränderungen haben der Bevölkerung einen hohen Preis abverlangt. Zu Beginn der 1990er Jahre sank der Lebensstandard rapide, während die Menschen von wachsender Inflation, Arbeitslosigkeit, Einkommens- und Ersparnisverlusten und unfreiwilliger Berufsumorientierung betroffen waren. Trotz späterer Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und steigender Löhne ist der Durchschnittseste im Vergleich mit den Bürgern der EU-Mitgliedstaaten arm. Ausgedrückt in
Pro-Kopf-BIP erreichte Estland 1999 36 Prozent des EU-Durchschnittes. Falls sich die Voraussagen des Finanzministeriums bewahrheiten sollten, könnte im Jahre 2010 das Pro-Kopf-BIP in Estland 50 Prozent des EU-Durchschnittes erreichen.
Diese Faktoren helfen, die ungünstige demographische Situation Estlands zu erklären. Zwischen 1990 und 2003 alterte die Bevölkerung und ging zahlenmäßig zurück. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurde der Rückgang hauptsächlich durch Emigration – vor allem in Richtung der früheren Sowjetunion – verursacht. In der zweiten Hälfte lag die Hauptursache in den rückläufigen Geburtenraten. In der Zeit zwischen 1991 und 2001 ging die Zahl der Geburten von 19 300 auf 13 000 pro Jahr zurück.
Zur gleichen Zeit verlor die Bevölkerung ihr Vertrauen in das Parlament, die politischen Parteien und die Regierung. In einer gemeinsamen Erklärung wiesen 26 Sozialwissenschaftler daraufhin, dass »die Zufriedenheit mit der Demokratie seit 1990 noch nie so niedrig war wie im April 2001«; sie warnten: »Die estnische Gesellschaft steckt in einer politischen, sozialen und ethischen Krise.« 4 Die Spaltung der Gesellschaft ist durch Meinungsumfragen belegt, in denen sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen den EU-Beitritt Estlands aussprachen, während ein Drittel der Bevölkerung diesem gleichgültig gegenüberstand. Im August 2001 stieg die Befürwortung der Europäischen Union mit 54 Prozent auf den höchsten Stand seit 1997.
2.5 Estland und die EU
Insbesondere nach der Wiederherstellung der Republik Estland möchten die Esten ihre Unabhängigkeit und ihren demokratischen Staat nun
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